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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Sylvie.
    Clarence erwartete sie am Tor zum Anwesen. Das Haus selbst war noch meilenweit entfernt am Ende einer langen Ulmenallee. Die Daunts bewohnten es seit Jahrhunderten und tauchten gelegentlich auf, um ein Volksfest oder einen Basar zu eröffnen oder die Weihnachtsfeier im Gemeindesaal kurz mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Sie hatten eine eigene Kapelle und wurden deswegen nie in der Kirche gesehen, doch jetzt sah man sie überhaupt nicht mehr, weil sie drei Söhne, einen nach dem anderen, im Krieg verloren und sich mehr oder weniger von der Welt zurückgezogen hatten.
    Es war unmöglich, Clarence’ Blechgesicht nicht anzustarren (»galvanisiertes Kupfer«, korrigierte er sie). Sie lebten in beständiger Angst, dass er die Maske absetzen könnte. Nahm er sie abends ab, wenn er ins Bett ging? Wenn Bridget ihn heiratete, würde sie dann das Grauen darunter sehen? »Es ist nicht so sehr das, was da ist«, hörten sie Bridget zu Mrs. Glover sagen, »als vielmehr das, was nicht mehr da ist.«
    Mrs. Dodds (»Die alte Mutter Dodds«, nannte Bridget sie wie jemanden aus einem Kinderlied) kochte Tee für die Erwachsenen, Tee, den Bridget später als »schwach wie Lämmchenwasser« bezeichnete. Bridget mochte Tee so stark, »dass der Löffel darin stand«. Pamela und Ursula hatten keine Ahnung, was Lämmchenwasser sein könnte, aber es klang nett. Mrs. Dodds gab ihnen sahnige, stallwarme Milch, die sie aus einem großen Emailkrug schöpfte. Ursula wurde schlecht davon. »Die Wohltäterin«, sagte Mrs. Dodds leise zu Clarence, als sie ihr die Marmelade und die Wicken gaben, und er sagte tadelnd: »Mutter.« Mrs. Dodds reichte die Blumen an Bridget weiter, die die Wicken in der Hand hielt wie eine Braut, bis Mrs. Dodds zu ihr sagte: »Stell sie ins Wasser, du dumme Gans.«

    »Kuchen?«, fragte Clarence’ Mutter und verteilte dünne Scheiben Pfefferkuchen, die so feucht aussahen wie ihr Haus. »Freut mich, mal Kinder zu sehen«, sagte Mrs. Dodds und schaute Teddy an, als wäre er ein seltenes Tier. Teddy war ein unerschütterlicher kleiner Junge und ließ sich durch nichts von Milch und Kuchen ablenken. Er hatte einen Schnurrbart aus Milch, und Pamela wischte ihn mit ihrem Taschentuch ab. Ursula vermutete, dass sich Mrs. Dodds nicht wirklich freute, Kinder zu sehen, ja, sie argwöhnte, dass sie, was Kinder anbelangte, mit Mrs. Glover einer Meinung war. Mit Ausnahme von Teddy natürlich. Alle liebten Teddy. Sogar Maurice. Hin und wieder.
    Mrs. Dodds inspizierte den Ring, der seit neuestem Bridgets Hand schmückte, und zog ihren Finger zu sich, als würde sie das Gabelbein aus einem Huhn ziehen. »Rubine und Diamanten«, sagte sie. »Sehr nobel.«
    »Die Steine sind winzig«, sagte Bridget defensiv. »Eigentlich ist er nur Schnickschnack.«
    Die Mädchen halfen Bridget beim Abwasch und ließen Teddy mit Mrs. Dodds allein. Sie spülten die Sachen in einem steinernen Becken in der Spülküche, in der sich kein Wasserhahn, sondern eine Pumpe befand. Bridget sagte, dass sie als Kind »in der Grafschaft Kilkenny« zum Brunnen hatte gehen müssen, um Wasser zu holen. Sie arrangierte die Wicken hübsch in einem alten Dundee-Marmeladenglas und ließ sie auf dem hölzernen Abflussbrett stehen. Nachdem sie das Geschirr mit einem von Mrs. Dodds’ dünnen fadenscheinigen Trockentüchern (das natürlich feucht war) abgewischt hatten, fragte Clarence sie, ob sie zum Gutshaus gehen und den eingemauerten Garten sehen wollten. »Du solltest nicht mehr dorthin gehen, Sohn«, sagte Mrs. Dodds zu ihm, »das regt dich nur auf.«

    Sie betraten den Garten durch eine alte Holztür in der Mauer. Die Tür ließ sich nur schwer öffnen, und Briget schrie leise auf, als Clarence mit der Schulter dagegenstieß und sie aufschob. Ursula erwartete sich etwas Wunderbares – glitzernde Brunnen und Terrassen, Statuen, Wege, Lauben und Blumenbeete, so weit das Auge reichte –, aber sie sah nicht viel mehr als eine verwilderte Wiese, Gestrüpp und Disteln wucherten überall.
    »Ja, es ist ein Urwald«, sagte Clarence. »Das war mal der Küchengarten, vor dem Krieg haben hier zwölf Gärtner gearbeitet.« Nur die Kletterrosen an den Mauern blühten noch, und die Obstbäume hingen voller Früchte. Pflaumen verfaulten an den Ästen. Überall schossen aufgeregte Wespen hin und her. »Dieses Jahr haben sie das Obst nicht geerntet«, sagte Clarence. »Drei Söhne, alle gefallen in diesem verdammten Krieg. Wahrscheinlich war ihnen nicht nach

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