Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
einschlägigen Literatur, dass Fegefeuer einem Willen unterworfen waren? Dass es keine rätselhaften Naturphänomene waren, sondern Instrumente, deren sich einst die Höllenfürsten bedient hatten?
Emily?
Sie schreckte aus den Gedanken auf.
Die dunklen Kulleraugen der Rättin wirkten jetzt wachsam, und die kleinen grauen Fellhaare waren gesträubt.
»Was ist das nur?«
Etwas bewegte sich dort vorn in der Dunkelheit.
Einige Autos rasten durch den Kreisverkehr, ohne dem Mädchen, das am Straßenrand stand, Beachtung zu schenken. Die Scheinwerferkegel ließen den nassen Asphalt schwarz funkeln.
Niemand, dachte Emily mit einem Mal, wird uns helfen, was immer auch geschehen mag. Wir sind jetzt allein und ganz auf uns gestellt, und das in einer Stadt, die uns vollkommen fremd ist und in der wir niemandem trauen können und aus der wir schnellstmöglich fliehen sollten.
Es ist groß
, murmelte Lady Mina,
aber ich kann keine Witterung aufnehmen
.
Und das, dachte Emily, obwohl ihnen beiden der Wind in die Gesichter blies.
Flüchtig suchte sie nach einem fremden Bewusstsein, ohne Erfolg.
»Mir geht es genauso«, gestand sie leise.
Es riecht bloß nach Regen.
Was Emily bezeugen konnte.
Und Stein.
Diese Ratten!
Manchmal wunderte sich Emily, dass die kleinen Nager über einen Geruchsinn verfügten, der Nahrungsmittel und andere Dinge auf so weite Entfernungen aufzuspüren in der Lage war.
Dann hörte sie etwas.
Ein seltsames Geräusch.
Das sich mit den Klängen der Nacht vermischte.
Wie alter, berstender Stein, so kroch es unter den Geräuschen der Stadt hindurch in Emilys Ohren und erinnerte sie an einen Ort, den sie vor vier Jahren besucht hatte.
In London.
Gemeinsam mit Aurora.
Knightsbridge.
Wo ein Ritter nur denen die Überquerung seiner Brücke gestattet hatte, die seine Gedichte zu zitieren wussten. Als sich der Scharlachrote Ritter, der eine riesige Figur aus rotem Stein gewesen war, in Bewegung gesetzt hatte, da war ein ganz ähnliches Geräusch von den hohen Wänden der riesigen Höhle widergehallt.
Doch nun kam dieses Geräusch aus dem Jardin du Luxembourg.
Wir sollten hier verschwinden
, schlug Lady Mina vor.
Da sah Emily, was sich dort im Gebüsch versteckt hielt, und Lady Mina fiepte aufgeregt, als die grobschlächtigen Gestalten aus den Schatten und hinaus auf den Weg traten.
Gargylen waren es, drei an der Zahl.
Fratzen, die Fieberträumen entsprungen waren, und Körper mit kurzen Beinen und langen Schwänzen, die sich knirschend ringelten.
Seltsamerweise erinnerte sich Emily an diese Kreaturen, von denen sie in dem Reiseführer, der im Abteil des Orient-Express ausgelegen hatte, Fotografien gesehen hatte. An einer Kirche mitten im Fluss waren sie zu Hause, der Kathedrale Notre Dame. Hoch oben auf den Simsen und Ballustraden der Türme hockten die steinernen Wasserspeier und blickten auf Paris herab. Aus einem Grund, der Emily natürlich unbekannt war, hatten die steinernen Ungeheuer ihre angestammten Plätze, die emsige mittelalterliche Bildhauer ihnen zugewiesen hatten, verlassen.
Lange Zungen hingen aus den Mündern, und Hörner, die nurmehr Stummel waren, ragten ihnen aus der Stirn. Die Augen, die so ausdruckslos waren, wie Kalkstein es nun einmal ist, spähten über die Straße hinüber zu den beiden nächtlichen Flüchtlingen und blinzelten träge, wenn die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos sie streiften.
Lauf einfach los!
meinte Lady Mina.
»Toller Vorschlag«, murmelte Emily.
Weglaufen war nicht die schlechteste Idee.
Doch wohin sollte sie sich wenden?
Da, schau!
Der erste der Gargylen hatte mit nur einem einzigen Sprung den hohen Zaun überwunden. Seine Bewegungen waren geschmeidig und flink und viel schneller, als Emily einer Figur aus massivem Stein zugetraut hätte. Jetzt hockte das Ding mitten auf der Straße und funkelte Emily aus grauen Steinaugen an.
Die beiden anderen Gargylen, die kleiner waren als ihr Artgenosse, jedoch nicht minder Furcht einflößend, taten es dem Anführer gleich.
»Na, klasse«, murmelte Emily.
Und Lady Mina schwieg.
Die steinkrallenbewehrten Füße der Kreatur hinterließen Risse auf dem nassen Asphalt, als sie sich dem Mädchen näherte.
In einer Sprache, die mit Sicherheit kein Französisch war, fauchte der große Gargyle seine Beute an. Eine ruckartige Kopfbewegung erinnerte Emily an die Krokodile, die sie im Londoner Zoo gesehen hatte. Eine gespaltene Zunge leckte über die wulstigen Lippen.
Fasziniert wurde Emily der
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