Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Tatsache gewahr, dass der Regen, der zwischen ihr und dem Gargylen niederging, zu winzigen Kristallen versteinerte, die alle mit einem melodischen Klimpern zu Boden fielen.
Sie spürte die Schnauze der Rättin an ihrer Hand.
Und ein eiskalter Hauch streifte sie.
Gerade so, als berühre ihre Haut uraltes graues Felsgestein, das bis vor kurzem von dichtem Schnee bedeckt gewesen war.
Die Gargylen schienen es plötzlich nicht eilig zu haben.
Unablässig prasselte der Regen auf den Asphalt.
Der Gargyle schien zu lächeln.
Emily sah an sich hinab.
Und schrie auf.
Bis zu den Knien war sie bereits zu Stein geworden. Ihre Stiefel und die Jeans hatten sich in ein Grau verwandelt, das sich schwarz färbte im winterlichen Regen. Nicht das geringste Gefühl mehr hatte sie in den Beinen, und der Stein breitete sich weiter aus. Sie konnte sie nicht mehr bewegen und suchte nach dem Gleichgewicht, begann zu schwanken und ungelenk zu schaukeln, doch gelang es ihr, aufrecht stehen zu bleiben. Erschrocken musste Emily erkennen, wie Gargylen zu jagen pflegen.
»Meine Beine«, stammelte sie nur.
Wie seltsam es sich anfühlte, zu Stein zu werden.
Eine steinerne Rättin lugte da aus ihrem ebenfalls steinernen Mantel, und ihre versteinerten Finger ließen sich nicht mehr bewegen, und der Gedanke, dass bald schon ihr Gesicht zu Stein werden würde, ließ Emily laut aufschreien.
Die Gargylen, die sich keinen Deut um das Geschrei des Mädchens scherten, kamen indes immer näher und umkreisten sie. Und sofern eine Kreatur aus Stein zufrieden zu lächeln vermochte, taten die Wesen, in deren Antlitz zu blicken Emily mehr oder weniger gezwungen war, genau dies.
Sie grinsten.
Zufrieden.
Fast schon hämisch.
Was ihre breiten Gesichter noch schauriger und fratzenhafter und durchtriebener wirken ließ.
Der Anführer der Gargylen grunzte laut.
Was die anderen beiden wohlwollend zur Kenntnis nahmen.
Emily spürte mit einem Mal eine Klaue, die sie an der Schulter berührte.
Und in diesem Moment sah sie Aurora.
Drüben, im Jardin du Luxembourg.
Die Bilderflut packte sie unvorbereitet und mit voller Wucht.
Aurora, die durch den taghellen Park rennt und sich fortwährend umdreht, weil sie sich verfolgt wähnt. Die Menschen um sie herum beachten sie nicht und gehen alle ihres Weges. Dann, mit einem Mal, sinkt Aurora zu Boden. Ihr Körper wird zu Stein bis auf die Augen, die weit aufgerissen sind, als die Gargylen sie umringen und nach ihr greifen und sie schreien lassen, so still und stumm, wie ein Schrei nur sein kann, den steinerne Lippen beherbergen.
Aurora!
Was hatten sie ihr nur angetan?
Und wo war Maurice Micklewhite gewesen, als die Gargylen sich seiner Schutzbefohlenen bemächtigt hatten? Wohin hatte man Aurora gebracht?
Erneut wollte Emily schreien, doch vermochte sie nicht, auch nur einen Ton zu erzeugen.
Der Gedanke, dass ihr Zunge und Hals zu Stein geworden waren, ließ die Panik, die sie bisher, wenn auch nur mühsam, hatte unterdrücken können, zu voller Pracht erblühen.
Und der Gargyle schnupperte an ihr.
Grunzte.
Emily konnte ihn sehen.
Doch etwas war anders.
Anders als sonst.
Etwas, das ihr Tränen ins Auge trieb.
Und zwar in das Mondsteinauge.
Das nun lebendig war.
Mit einem Mal.
Nach all den Jahren.
Was auch immer ihren Körper zu Stein hatte werden lassen, es hatte zugleich das Mondsteinauge in ein richtiges Auge zu verwandeln vermocht, was Emily ein Schwindelgefühl bescherte. Denn mit einem Mal sah sie die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Es war, als verschwände eine Seite der Welt, um einer anderen Platz zu machen.
Was, fragte sie sich, wird jetzt mit mir geschehen?
Bevor sie sich auf die Suche nach einer Antwort auf diese Frage machen konnte, hörte sie ein Summen.
Federleicht war jenes Geräusch, das von zarten Flügelschlägen herrühren mochte. Von Flügelschlägen, die neben ihrem Kopf auftauchten und sich in Richtung der Gargylen bewegten, die mit einem Mal gar nicht mehr so ruhig waren wie noch vorhin: Panik schien sie zu befallen.
Etwas schwebte vor Emilys Gesicht.
Stand still in der Luft.
Ein Insekt.
Nein, ein Vogel war es.
Ein winziger Vogel.
An die langen Winterabende musste Emily plötzlich denken. An den Kamin im großen Salon des Anwesens in Marylebone und die Bücher, die dort in den Regalen zu finden waren. Wie gern wäre sie wieder dort gewesen. Und wie seltsam, dass ihr gerade jetzt, in dieser Situation, bewusst wurde, wie sehr Hampstead Manor ihr Zuhause geworden
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