Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
sein.
Glaubst du, wir werden sie finden? Hier in Paris?
Emily schaute sich um. Betrachtete die Passanten in der Métro.
Jetzt, da der neue Tag angebrochen war, kam die Verzweiflung zurück. Emily war sich bewusst, dass sie ganz auf sich allein gestellt war in dieser fremden Stadt. Zwar kannte Emily den Namen des Hotels, in dem Zimmer für sie reserviert gewesen waren, doch schien es ihr keine gute Idee zu sein, das Hotel Chopin am Boulevard Montmartre aufzusuchen.
»Wer immer hinter uns her ist«, sagte sie der Rättin, »wird uns dort erwarten.«
Aber wohin sollen wir uns denn dann wenden?
Emily zuckte die Achseln.
»Von hier sollten wir auf jeden Fall verschwinden.«
Die Gargylen hatten sie zwar nicht bis in die Métro hinein verfolgt, doch konnte es immerhin sein, dass sie am nächsten Morgen erneut zur Jagd ausschwärmen würden.
Und die seltsame Katzengöttin mit ihren Kolibris war auch nicht wieder aufgetaucht.
»Warum hat sie uns wohl geholfen?«
Eine Frage, auf die Emily keine Antwort erwartete.
Mir war sie unheimlich
, gab Lady Mina zu.
Was nicht weiter verwunderlich war. Wäre ich eine Rättin, dachte Emily, dann wäre ich wohl auch wenig begeistert gewesen über das Auftauchen einer Katzengöttin.
»Was auch immer sie wollte«, sagte Emily, »wir stehen in ihrer Schuld.«
Dann erhob sie sich.
Ein Zug fuhr ein.
Doch Emily zog es vor, erst einmal durch die Tunnel zu wandern. Wie sich schnell herausstellte, war Cluny La Sorbonne über lange Korridore, die metallisch steril glänzten, mit den beiden Métro-Stationen Notre-Dame und Saint Michel verbunden. Unzählige Menschen strömten mit einem Mal durch die Gänge. Die Métro war binnen weniger Minuten zu regem Leben erwacht. Die Händler, die früher die Pariser Straßen durchstreift hatten, waren nunmehr in den Untergrund hinabgestiegen. Kleinkrämer verkauften Kaffee und Croissants, Maghrebiner handelten mit Obst, Chinesen aus Wenzhou vertrieben Lederartikel und Mode-Accessoires, Inder aus Gujarat boten Feuerzeuge und Jojos an, und arme Schlucker aus Bangladesh verkauften Erdnusstüten im Auftrag mafiöser Zwischenhändler.
Kontrolleure gab es hier unten zuhauf. Finster dreinschauende Männer in olivgrünen Jacketts und gelben Hemden mit rot-grün gestreiften Einheitsschlipsen, denen Emily instinktiv aus dem Weg ging, sobald sie auch nur einen der Kerle an einer Ecke lauern sah.
Sie besaß nur wenige Münzen in der Landeswährung. Außerdem war sie am Vorabend während ihrer Flucht vor den Gargylen ohne gültigen Fahrschein über die Drehkreuze geklettert. Schwarzfahren, das wusste sie, wurde in jeder Metropole geahndet. Und auf Scherereien mit den hiesigen Sicherheitskräften wollte sie verzichten.
Also duckte sie sich jedes Mal hinter einem Passanten und nutzte das dichte Gedränge aus, um sich an den Kontrolleuren vorbeischieben zu lassen.
Was nichts daran änderte, dass sich kurz vor der Rolltreppe, die sie hinauf nach Paris gebracht hätte, eine behandschuhte Hand auf ihre Schulter legte. Obwohl Emily nicht verstand, was der Mann in der hässlichen Uniform da zu ihr sagte, wusste sie, dass sie sich in Schwierigkeiten befand.
Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, den Versuch eines Gesprächs zu wagen, duckte sie sich, tauchte unter dem Mann in die Menge ab und nahm die Beine in die Hand. Diesen Trick hatte sie den Londoner Punks abgeschaut, die sich ähnlich verhielten, wenn es in der Underground zu Kontrollen kam. Zu ihrer Überraschung funktionierte es sogar, und sie war in Windeseile um die nächste Tunnelbiegung gelaufen.
Dummerweise schien es sich der Kontrolleur zum Ziel gesetzt zu haben, mindestens einen Schwarzfahrer an diesem Tag zu erwischen.
Und er war schnell.
Mit großen Schritten folgte er Emily, die mit wehendem Mantel die Flucht nach vorn antrat.
Und so rannte Emily.
Spürte die Rättin, die sich in ihrer Manteltasche festkrallte.
Hörte die wütenden Rufe des Kontrolleurs, der ihr nachstellte, als habe sie ein Kapitalverbrechen begangen.
Emily bog in einen neuen Tunnel ein.
Plakate zierten dort die Wände.
In Glasrahmen steckende Gemälde, die eine Revue im Moulin Rouge und ein Stück im Theatre du Grand-Guignol ankündigten.
Da stürzte Emily mit einem Mal unsanft zu Boden.
Weil sie über etwas gestolpert war.
Sie hörte das Klimpern von Münzen auf den sauberen Kacheln des Tunnelbodens, vermischt mit den ausklingenden Takten eines Liedes, das sie schon einmal gehört hatte.
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