Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
gigantischen Maschine, die sich über einen alten Friedhof gelegt hatten. Denn zwischen den Rohren und Leitungen erhoben sich Grabsteine aus Marmor aus dem Boden, umrankt von Pflanzen, wie sie nur hier unten in der Finsternis zu gedeihen vermögen.
    Die Stadtwerke haben die Leitungen in den 50er-Jahren ohne Rücksicht auf die alten Grabstätten verlegt, erklärte uns Londons Efeu, als wir den Zug verlassen hatten und die seltsame Landschaft, die vor uns lag, bestaunten. Kein Respekt vor den Toten.
    Zwischen den Grabsteinen wehten die Dämpfe umher.
    Einst war dies ein Friedhof für die Reichen der Stadt. Der Nebel schwebte vor uns her. Hier unten hatten sie ihre Grüfte errichten lassen, um nicht mit dem gewöhnlichen Volk beigesetzt werden zu müssen.
    Kreuze aus Gold und edelste Steine säumten die Gräber.
    Statuen mit abgebrochenen Köpfen.
    Fabelwesen, elegant und filigran.
    Dann, inmitten all der Grabsteine, erblickten wir den Jungen, der uns erwartet hatte.
    Wie angewurzelt stand Emily da und starrte ihn an. Bemerkte, wie sehr er sich verändert hatte. Wie erwachsen er doch geworden war in all den Jahren. Doch sah sie noch immer den Jungen in ihm, der damals im alten Raritätenladen gearbeitet hatte. Der mit ihr zum dunklen Fluss hinuntergewandert war und der Auroras Herz erobert hatte. Es noch immer besaß, weil sie seins nie fortgegeben hatte.
    Er winkte ihr zu, und in diesem Augenblick war es, als sei keine einzige Stunde vergangen, seitdem er London verlassen hatte. Als seien all die schlimmen Dinge gar nicht geschehen, die sich in der Zwischenzeit zugetragen hatten. Als sei die Welt in Ordnung.
    Emily begann zu laufen.
    Zwischen all den Gräbern hindurch rannte sie und wich dabei den krummen Rohren aus, die überall zu sein schienen, und auch der Junge kam ihr entgegengelaufen.
    Da war so viel.
    Die Erinnerung an die Gespräche, die sie geführt hatten.
    Spaziergänge, die sie unternommen hatten.
    Momente im alten Raritätenladen.
    Am Ende würde sie sich aber nur mehr an die Umarmung erinnern können, an das Gefühl, jemanden wiedergefunden zu haben, den sie auf immer verloren geglaubt hatte.
    »Neil«, flüsterte sie und drückte ihn an sich, vergrub das Gesicht in seinem blonden Haar und spürte ihn atmen. »Little Neil Trent, mein Gott, der Nebel hat die Wahrheit gesagt.« Sie begann zu weinen und musste trotzdem lachen. »Du bist wieder hier.« Sie sah ihn an, hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest. »Wo hast du nur gesteckt?«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    Wieder umarmten sie sich.
    Hielten einander fest.
    So fest.
    Sie küsste Neil, wie man einen Freund küsst.
    Sah ihn lange an.
    Die hellblauen Augen, die so viele seltsame Dinge gesehen haben mochten.
    Das blonde Haar, das jetzt länger war als damals.
    Little Neil Trent war nicht Adam Stewart.
    Sie wusste nicht, warum sie das gerade jetzt dachte. Aber es tat weh, es zu denken.
    Und es stimmte sie traurig, obwohl sie doch nur Freude hätte empfinden sollen.
    »Aurora hat dich gesehen«, sagte Emily schließlich. »In Highgate.«
    »Ich weiß.« Er wirkte nachdenklich. »Wie geht es ihr?«
    »Wie es ihr geht?« Was dachte er denn, wie es ihr ergangen war? »Sie glaubt, dass du tot bist.«
    Schuldbewusst senkte er den Blick.
    »Warum hast du ihr das angetan?«
    Er schwieg.
    »Warum hast du uns das angetan?«
    »Das ist eine lange Geschichte.«
    Bisher hatte ich mich im Hintergrund gehalten.
    Jetzt trat ich vor.
    »Master Wittgenstein.«
    Ich verneigte mich kurz. Lächelte. »Sie sind also wieder unter uns. Wie schön.«
    »Ich konnte mich nicht früher zu erkennen geben«, entschuldigte er sich gleich.
    »Wo hast du nur gesteckt?«
    »Ach, Emily, ich habe Dinge gesehen, die ich niemals hätte sehen dürfen.«
    »Was ist passiert?« Ich erwähnte den frühmorgendlichen Besuch Maurice Micklewhites in Marylebone, als er uns die Nachricht überbracht hatte, dass die Pequod vor San Cristóbal verschollen und vermutlich sogar gesunken war. Seit diesem Tag, der nun mehr als fünf Jahre zurücklag, hatten wir kein Lebenszeichen mehr von dem jungen Neil Trent vernommen. Das Schiff war bis heute nicht wieder aufgetaucht, und das Ereignis war in der Öffentlichkeit schnell in Vergessenheit geraten.
    »Es ist so viel passiert, Emily.« Er schlug den Blick nieder. »Das mit Master Micklewhite tat mir unendlich Leid.« Emily wusste, dass auch Neil seinen Vater verloren hatte. »Ich musste einfach zur Beerdigung kommen, auch wenn es gefährlich war und

Weitere Kostenlose Bücher