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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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starben hier unter grässlichen Umständen, viele konnten aber auch gerettet werden.
    »Es ist ein Ort«, sagte Shakespeare, »an dem die Erinnerungen noch immer lebendig sind.«
    Scarlet schaute sich ehrfürchtig um.
    Drinnen im Haus war nichts verändert worden.
    Alles sah noch genauso aus, als habe jemand über Nacht die Räumlichkeiten verlassen und sein Hab und Gut einfach stehen lassen. Seltsam wirkte allenfalls, dass es keine Plünderungen gegeben hatte. In all den Jahren war niemand hier eingedrungen und hatte sich an dem Porzellan und den Möbeln und den Bildern bedient. Es war einfach alles noch da.
    Scarlet lauschte.
    Nichts.
    Aus der Ferne das Geräusch der Wellen, die gegen den Pier schlugen, der Verkehr auf der Williamsburg Bridge, sonst nichts.
    Stille.
    Nur unsere Schritte.
    Atem.
    »Dort entlang«, wies uns Christo Shakespeare den Weg. Er durchquerte den Salon, an dessen Wänden Bilder von Abraham Lincoln, Martin Luther King und James Baldwin hingen, und ging auf die Tür zu, die in den Keller hinabzuführen schien.

    Er öffnete sie.
    Lugte in die Dunkelheit.
    Lauschte.
    Nichts.
    Er betätigte den Lichtschalter, und die Lichter gingen tatsächlich an.
    »Es gibt hier noch Strom?«, fragte Scarlet verwundert.
    »O ja«, war alles, was Shakespeare antwortete.
    Dann ging er voran, Stufe um Stufe. Langsam, vorsichtig.
    Wir stiegen ein Treppenhaus hinab. Immer und immer noch tiefer führten die schmalen Treppen nach unten. Die kühle Luft roch modrig und leicht metallisch. Dann kamen wir endlich unten an.
    Die niedrigen Kellerräume waren weitgehend leer.
    An den einstmals weißen Wänden und Decken liefen dünne Wasserrohre und Dampfleitungen entlang. Hier und da sah man Gegenstände, die alt und rostig und vermodert waren. Eine Tragbahre, altertümliche Lampen, in denen nur schwach orangefarbene Lichter glommen, Medikamentenverpackungen, die achtlos und aufgeweicht überall auf dem Boden lagen, vergilbte Zeitungen mit den Schlagzeilen der späten Vierzigerjahre, die jemand dort zurückgelassen hatte. Der Schimmel an den hohen Wänden ließ die Gänge aussehen, als litten sie an einer seltenen Hautkrankheit.
    Am Ende eines Ganges stießen wir auf eine Doppeltür mit der Aufschrift Zum Leichenhaus . Wir traten kurz ein und sahen ein Skelett, bedeckt noch mit alten Lumpen, die einmal modern gewesen waren. Scarlet trat an den Tisch heran, auf dem das Skelett lag. Ein Zettel war daran befestigt, am Zeh: John Doe . Scarlet wusste, dass man den Namen in Krankenhäusern verwendete, um die unbekannten Toten zu markieren.
Diejenigen, die weder Angehörige noch einen Namen hatten, waren alle John Doe .
    »Hier wurden die Ku-Klux-Kranken behandelt«, sagte Christo Shakespeare.
    Scarlet fragte nicht nach, was genau er meinte. Es hörte sich schlimm an. Die Einrichtung mit ihren Gurten aus Gummi und eisernen Schnallen und Fesseln und kalten Gitterbetten erzählte zudem ihre eigene Geschichte.
    »Kommen Sie«, forderte ich Scarlet auf.
    Das ist kein guter Ort , meinte Buster und drückte sich eng an Scarlets Hals.
    »Er ist ein Mandrake«, sagte Christo Shakespeare nur. »Ein Mischling.«
    »Und?«
    »Rassismus ist ihm nicht fremd.«
    Buster duckte sich ein wenig, wich ihrem Blick aus, als sie ihn ansah. Scarlet berührte seinen Kopf und kraulte ihn zwischen den Ohren. Es ist alles vorbei , sagte er. Alles Vergangenheit .
    Dann gingen wir wieder hinaus und folgten den tropfenden Dampfleitungen in die andere Richtung.
    Unsere Schritte hallten wie Leuchtsignale durch die Stille der unterirdischen Welt.
    Wir kamen an einer Wäscherei vorbei, an einem Gewächshaus voll verdorrter Pflanzen, an einer Puppe, der das Gesicht fehlte, und einem Bücherregal, in dessen Fächern sich raupenartige Zweibeiner verpuppt hatten. Sie bewegten sich nicht, klebten ruhig an dem morschen Holz.
    »Was ist das?«, fragte Scarlet, die ihren Ekel kaum unterdrücken konnte.
    »Das sind Raupenfrauen«, sagte Christo. »Normalerweise
verpuppen sie sich in Kaufhäusern und werden zu Nachtfaltern, wenn der Tag vorbei ist.« Er näherte sich ihnen vorsichtig. »Diese hier werden frühestens in ein paar Tagen schlüpfen. Dann sind wir längst fort.«
    Scarlet nickte nur.
    Und ging schnellen Schrittes weiter.
    Sie wollte gar nicht wissen, was genau diese Raupenfrauen taten, wenn sie zu Nachtfaltern geworden waren.
    Sie lauschte lieber in die Stille.
    Achtete darauf, wohin sie trat.
    Hier und da lagen dicke Stücke brüchigen Putzes auf dem Boden, an

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