Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
kleiner Spinnen, die mit ihren Leibern die Körper bildeten. Sie regten sich, krabbelten übereinander, hielten einander fest, agierten gemeinsam wie ein einziges Wesen. Sie imitierten ein Gesicht, Augen, Mund und Nase, Kinn und Wangen. Nur war eben alles wirklich ständig in Bewegung.
Hunderte von Mandibeln bewegten sich gleichzeitig. Sie machten Geräusche, die dem Klicken und Klacken des Tunnelstreichers von vorhin sehr nahe kamen.
»Wir grüßen Euch«, sagte Queequeg und verneigte sich.
Er bedeutete Jake und Scarlet, das Gleiche zu tun. Beide verloren keine Zeit, seiner Bitte nachzukommen.
»Was führt Euch her, Streicher?«, knackte es aus den vielen Mündern wie Feuer. Die Laute aus den Kiefern wurden tatsächlich zu richtigen Worten. Der erste Spinnenmann trat näher an Queequeg heran, und sein wuselndes Gesicht nahm ständig neue Ausdrücke an, die losgelöst waren von dem, was er sagte. »Warum kommt Ihr zu uns in die Kolonie, obwohl Ihr doch genau wisst, dass wir immerzu hungrig sind?«
Scarlet warf Jake einen nervösen Blick zu.
Hungrig?
Das hörte sich nicht gut an.
Jake sah so aus, als denke er genau das Gleiche.
»Wir erbitten Eure Hilfe«, sagte Queequeg.
»Warum sollten wir Euch helfen?«
»Man sagt, dass Ihr krank seid«, behauptete der Tunnelstreicher.
Scarlet und Jake sahen einander an. Davon hatte er nichts erwähnt.
»Wie habt Ihr davon erfahren?«, wollte der Spinnenmann wissen. Dicke Kreuzspinnen fielen ihm aus den Augenhöhlen, seilten sich ab, baumelten kurz am Kinn und wurden dann ein Teil der Wangen.
»Ich bin ein Tunnelstreicher«, antwortete Queequeg. »Ich streiche durch die uralte Metropole und lausche dem, was geredet wird.«
Die beiden Spinnenwesen kamen näher.
Sie wuchsen noch immer, waren riesengroß.
»Dann sagt«, fauchte der eine, »was man sich so erzählt, Tunnelstreicher!«
Queequeg sah in das zerfließende und neu entstehende Gesicht aus winzigen schwarzen Leibern.
»Man sagt, dass es Euch nicht gut geht.«
Scarlet erkannte, dass die große Gestalt leicht vibrierte. Es sah aus, als würde sie erzittern.
Queequeg fuhr fort: »Man sagt, dass die Spinnen krank sind.« Er erwähnte einige seiner Quellen.
»Und Ihr seid gekommen, um uns zu helfen?«
»Ja.«
»Ihr könnt uns nicht helfen.«
»Wir können es versuchen.«
»Ihr seid Menschen.«
»Wir folgen einer Spur.«
»Ihr könnt uns nähren, wir sind so durstig«, sagte der zweite Spinnenmann, und der Mund in seinem Gesicht wurde groß und breit und reichte von einem Ohr bis zum anderen.
Scarlet fragte sich insgeheim, ob er ein Grinsen imitieren wollte oder ob es sich um eine Drohgebärde handelte. Dann
rief sie sich die Überreste von Menschen und Tieren ins Gedächtnis zurück, die überall in den hohen Netzen steckten, und mit einem Mal war ihr ganz elend zumute.
»Wenn Ihr uns jetzt tötet«, sagte Queequeg schnell, »dann werdet Ihr nicht erfahren, warum wir hier sind.«
Die Spinnenleute schwiegen.
Sie traten aufeinander zu und berührten sich mit den Händen und tauschten Spinnen. Es sah aus, als flössen die beiden Leiber zusammen, als würden Finger eins, um sich kurz darauf wieder zu lösen.
»Man sagt, dass Ihr krank seid.«
Der Spinnenmann schwieg einen Augenblick lang, dann sagte er mit leisen Klackgeräuschen: »Die Spinnen schlafen nicht mehr.«
»Was heißt das?«
»Die Spinnen schlafen nicht mehr. Sie müssen wach bleiben.«
Scarlet wunderte sich, dass Spinnen überhaupt jemals schliefen in ihrem Leben. Bisher war sie eigentlich immer davon ausgegangen, dass Spinnentiere niemals schliefen, sondern sich nur ausruhten, wenn sie regungslos dasaßen und mit ihren Augen wachsam ihr Umfeld betrachteten.
» Warum schlafen die Spinnen nicht mehr?«, fragte Queequeg.
»Diejenigen von uns, die schlafen«, antwortete der Spinnenmann mit einem Schnalzen in der rauen Stimme, »erstarren zu Eis. Nicht einmal mehr ihre Panzer bleiben uns erhalten, alles verschwindet. Sie werden zu Wasser und tropfen hinab in die Tiefe und werden eins mit dem großen Fluss.«
Queequeg nickte nur. »Und Ihr glaubt, dass Ihr überlebt, wenn Ihr wach bleibt.«
»Das Übel, für das wir keinen Namen haben«, erklärte der Spinnenmann mit leiser Stimme, »schleicht sich an uns heran, wenn wir träumen. Ich sehe Euch die Verwirrung an, Streicher.« Die Spinnen in seinem Gesicht formten ernsthafte Züge. »Ja, wir haben die Fähigkeit zu träumen schon vor langer Zeit geschenkt bekommen. Ihr kennt doch die
Weitere Kostenlose Bücher