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Die Vagabundin

Die Vagabundin

Titel: Die Vagabundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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in Stücke. Manchmal erwachte sie mitten in der Nacht, weil ihr die Brust schmerzte und die Kehle eng wurde. Dann sah sie in der Dunkelheit des Dachbodens ihre Schwester vor sich, wie sie sich zum Abschiedsgruß vor der Donaubrücke zu ihr umgewandt hatte: in diesem viel zu dünnen blassblauen Leinenkleid, das Schultertuch gegen den Nieselregen über den Kopf gezogen, die weit aufgerissenen Augen rot gerändert und voller Angst.
    Erst die Mutter, dann der starke, kluge Adam, dann die geliebte ältere Schwester – alle waren ihr vom Schicksal in wenigen Jahren genommen worden. Und vorgestern schließlich hatten sie die Hoblerin zu Grabe getragen. Nur Niklas, der Zarte und Schwächste von ihnen, war ihr noch geblieben. Zeit ihres Lebens hatte Eva sich niemals unterkriegen lassen, doch plötzlich fühlte sie sich den Widrigkeiten und Unwägbarkeiten des Schicksals schutzlos ausgeliefert.
    Müde stellte Eva an diesem milden Frühherbsttag, kurz vor Michaelis, ihr Spinnrad in den kleinen Hof und machte sich an die Arbeit. Seitdem Gallus Barbierer bei seiner alljährlich neu anstehenden Amtsverpflichtung kurzerhand zurückgewiesen worden war, war ihr Alltag noch elender geworden. Wahrscheinlich waren den Stadtvätern seine Trinkgelage und heimlichen Glücksspiele zu Ohren gekommen. Bis auf ein paar Botengänge hin und wieder für den Stadtschreiber hatte er nunkeinerlei Verdienstmöglichkeit mehr. Bei gutem Wetter lungerte er tagsüber am Hafen herum, bei schlechtem fläzte er sich bis zum Nachmittag faul auf seinem Strohlager. Eva schlug jedes Mal drei Kreuze, wenn er sich endlich aufrappelte, um in den
Rauen Mann
zu verschwinden, die allerschäbigste und billigste Spelunke hier in der Vorstadt. Denn vom Saufen und Würfeln konnte er nicht einmal jetzt lassen, wo nur noch Evas Spinnarbeit Geld einbrachte.
    In einer Jahreszeit, wo die Natur ihre üppigsten Schätze auftischte, wo an den Markttagen die Schragentische sich unter den Bergen an Feld- und Baumfrüchten bogen, da war Schmalhans uneingeschränkter Meister in ihrer Küche geworden und brachte nicht viel mehr als altes Brot und wässrige Suppe auf den Tisch. Fast sehnsüchtig dachte Eva inzwischen an ihre Anfangszeiten in Passau zurück, wo ihr noch die Freiheit gegeben war, durch die Gassen zu ziehen und mit ihren kleinen Gaunereien ein paar Heller zu verdienen. Das Krüglein Milch, das die Hoblerin hin und wieder vorbeigebracht hatte, fehlte nicht minder. Das einzig Gute in dieser Zeit der Not war, dass die Heiratsabrede mit dem alten Bomeranz wohl ein für alle Mal vom Tisch war. Ihr Stiefvater glaubte nämlich zu wissen, wer der Urheber seines schlechten Leumunds war – niemand anders als sein Vetter, mit dem er in letzter Zeit immer häufiger in Streit geraten war und dem er schließlich gedroht hatte, den Schädel einzuschlagen, sollte Bomeranz noch einmal seine Schwelle betreten. Um Geld und gemeine Weiber war es dabei wohl gegangen, so genau wusste Eva es nicht und wollte es auch nicht wissen. Hauptsache, dieser Kelch der Verlobung war ein für alle Mal an ihr vorübergegangen.
    Eva streckte den Rücken, der immer häufiger in letzter Zeit zu schmerzen begann. Vom Nachbarhof her hörte sie eine Amsel singen. Früher hatte auch sie manchmal beim Spinnen vorsich hin gesungen, Kinder- oder Liebeslieder, und sich damit die eintönige Arbeit verkürzt. Früher – das war gewesen, als die Hoblerin noch gelebt hatte und sie sonntags mit Josefina am Innufer spazieren gegangen war. Jetzt fand sie keine Lieder mehr, die sie hätte singen können. Alles in ihr fühlte sich an wie ein morsches Stück Holz.
    Sie schrak auf, als Niklas vor ihr stand.
    «Ist Vater hier?»
    Eva schüttelte den Kopf. Da zog er zwei Äpfel unter seinem zerlumpten Wams hervor. Groß, rund und rotgelb leuchtend lagen sie in seiner Hand. Eva lief das Wasser im Mund zusammen.
    «Die hab ich gefunden. Für uns beide.»
    «Gefunden? Solche Äpfel liegen nicht am Wegrand.»
    «Ist doch gleich.»
    Gierig biss er hinein, dass der Saft aus seinen Mundwinkeln rann. Ein Gefühl der Mutlosigkeit stieg in Eva auf. Niklas hatte die Äpfel also gestohlen! Von den wenigen Pfennigen nämlich, die er für seine Handlangerdienste bekam, würde er niemals solch kostbare Früchte kaufen können. Sie wusste, wie liebend gern Niklas mehr zum Unterhalt beitragen würde, aber als Holzträger und Karrenschieber war er zu schmächtig, und an die begehrteste Arbeit der Gassenbuben, nämlich die Pferde und Ochsen der

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