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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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meisten unter dem Diktat des
Grafen von Dracula erlassenen Edikten wurde jeglicher Verstoß mit standrechtlicher Pfählung geahndet.
    Es war nicht leicht, seinen inneren Vampir zu nähren. Er war gezwungen, sich bei einem koscheren Fleischer Tierblut zu verschaffen. Der Israelit war ein verfluchter Halsabschneider. Der Preis für ein paar ranzige Tropfen Rinderblutes war in drei Jahren um das Zehnfache gestiegen. Manchmal trieb ihn das Verlangen nach dem süßen, wohlriechenden Blut junger Frauen an den Rand des Wahnsinns. Stark und schwach zugleich, blickte er in einen Mahlstrom. Mit einer Mischung aus Grausen und Entzücken gedachte er der Nacht, da ihn das Verlangen überkommen würde. Mit scharfen Klauenhieben würde er in eine nahe gelegene Bodenkammer dringen und eine fette Ehefrau oder Tochter zwingen, sich ihm hinzugeben. Dann, gesättigt, würde er seinen poetischen Träumereien nachhängen, und die Worte würden ihm aus der Feder sprudeln wie Wasser aus einer Quelle. Die Juden würden seiner unglücklichen Laufbahn mit einem Pflock ein blutiges Ende bereiten.
    Eines Abends im Mai 1917 war Poe aus seiner Lethargie erwacht und musste feststellen, dass der kurzsichtige Feigling Wilson die Vereinigten Staaten von Amerika in den europäischen Konflikt verwickelt hatte. Mit einem Federstrich hatte Wilson aus Edgar Poe einen Feind der Mittelmächte gemacht. Damals hatte er in einem halbwegs behaglichen Logierhaus am Sladkowskyplatz gewohnt und sich als Dozent ein kümmerliches Einkommen verdient. Obgleich der Ruhm der Schlacht von St. Petersburg recht schnell wieder verblasst war, hatte sein Name etwas von seinem alten Glanz behalten. Wenn alle Stricke rissen, konnte er immer noch den »Raben« rezitieren, die einzige Konstante seines Lebens, seines Ruhms. Er betrachtete das Gedicht schon lange nicht mehr als sein Werk und verabscheute das »Nimmermehr«-Geplärr von ganzem Herzen.

    Heute, acht Monate später, hauste er auf einem Dachboden, kaum größer als ein Sarg. Das Ghetto war ein schmutziges Labyrinth aus engen, überdachten Gässchen, eher Tunnel denn Straßen. Ein verseuchter Bienenstock aus Holz und Mörtel. Jedes Zimmer beherbergte unglaubliche Mengen schnatternder, schwatzender Hebräer. Europa wimmelte von Untermenschen. Wenn er sich über die Salniter Gasse hinauswagte, musste Poe eine Armbinde tragen, die ihn als feindlichen Ausländer kenntlich machte.
    Er war mit großen Erwartungen von den finsteren und chaotischen Gestaden seines vaterländischen Philistia in eine alte Welt der Kultur aufgebrochen. Doch statt der gesuchten Freiheit hatte er nur alte Feinde vorgefunden, den Neid der Geringeren und die Versuchung der Verzweiflung. Die wenigen, die sich bereitgefunden hatten, seinen Fall zu überdenken, behandelten ihn wie ein Rätsel im Gewand eines Plagegeistes, einen wundersamen Kauz, dessen nähere Betrachtung sich nicht lohnte.
    Sein Zahnfleisch wich zurück, und seine spitzen Zähne schmerzten. Eine eiserne Faust schloss sich um sein Herz. Er konnte es nicht mehr ertragen. Seine Schwäche verfluchend, ergriff er den Humpen und kippte sich die klumpigen Reste in die brennende Kehle.
    Unbeschreibliche Fäulnis überschwemmte seinen Mund, und schwarzer Schmerz sprengte ihm den Schädel. Es war rasch vorbei. Der rote Durst war, fürs Erste wenigstens, gestillt. Es blieb ein widerlicher Nachgeschmack, als sei das Blut mit Maschinenöl versetzt gewesen.
    Das Blut trübte seinen Verstand. Er dachte an blasshäutige Frauen mit lebhaften Augen, strahlendem Lächeln und langem feinem Haar. Ligeia, Morella, Berenice, Lenore, Madeline. Ihre Gesichter verschmolzen in eins. Virginia. Seine Gemahlin war mit Blut im Mund entschlafen, ihre Kinderstimme im Gesang erstickt. Später
kehrte sie zurück aus ihrem Grab und bedeckte ihn mit langzähnigen Küssen. Sie säugte ihn mit ihrem Blut und verwandelte ihn. Inzwischen war Virginia wirklich tot, mit Atlanta verbrannt, und doch war sie ihm Frau, Tochter, Schwester und Mutter zugleich. Er lebte mit ihrem Geschmack auf der Zunge und ihrem Blut in seinem unsterblichen Körper.
    Plötzlich hämmerte es gegen die Tür. Erschrocken sprang er von der Pritsche. Sein schwindelnder Schädel prallte gegen einen Balken, und er stöhnte. Er riss die Tür auf, schälte den Teppich von den nackten Bodendielen. Draußen, auf dem obersten Treppenabsatz, stand ein Vampir in Uniform und funkelte ihn unter dem adlerbewehrten Schirm seines Tschakos wütend an. Seine

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