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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Schnurrbartspitzen waren gezwirbelt und gewichst. Poe erkannte den Boten der Kommission für feindliche Ausländer.
    »Guten Morgen, Herr Unteroffizier Paulier«, sagte Poe auf Deutsch. Deutsch war die Amtssprache Österreich-Ungarns. Es gab Tschechen und Polen, die kein Wort in ihrer eigenen Zunge über die Lippen brachten. »Was verschafft Prags gefährlichstem Angehörigen einer feindlichen Macht die Ehre Ihres Besuches?«
    Statt einer Antwort streckte Paulier einen hölzernen Arm aus. Ein Umschlag war mit einer Nadel an seinem Handschuh befestigt. Wie so viele Funktionäre war der Bote ein Wechselbalg des Krieges. Sein Blut war nicht kräftig genug, um ein verlorenes Glied neu zu bilden. Poe löste den Brief und schlitzte ihn mit spitzem Fingernagel auf. Paulier machte wortlos kehrt und stieg die vielen Treppen wieder hinab, seine falsche Hand klapperte gegen die Geländerstäbe.
    Eine der gegenüberliegenden Türen öffnete sich einen Spaltbreit, und etwa drei Fuß über dem Boden glänzten große, feuchte Augen. Das ganze Haus schwärmte von Ratten und semitischen Kindern. Degenerierte Rassen konnten sich ungehemmmt vermehren. Dracula tat recht daran, ihnen zu verbieten, sich in Vampire
zu verwandeln. Poe fletschte die Fangzähne und fauchte. Die Tür fiel ins Schloss. Er las die Nachricht von der Kommission. Man zitierte ihn erneut vor das Gericht am Hradschiner Platz.
     
    Der Nachmittag schleppte sich dahin. Poe saß allein in einem kathedralenhaften Wartesaal und horchte, wie die Zeit verrann. Seit seiner Verwandlung besaß er ein so scharfes Gehör, dass er selbst das Räderwerk einer Uhr deutlich wahrzunehmen vermochte. Ein durch Mark und Bein gehendes Knirschen und Klicken begleitete jede Sekunde. Noch das winzigste Geräusch hallte in seinem Schädel wider wie Regentropfen auf einem Trommelfell. Insgeheim pflegte er das Amt, in dessen Räumlichkeiten man ihn nicht zum ersten Mal zitierte, als den Palast von Vondervotteimittiss zu bezeichnen. Seine staubigen Winkel und kalten, harten Bänke waren vom Gang der Geschichte unberührt geblieben.
    Vor vier Jahren, bei Kriegsausbruch, standen dem Kaiserreich genügend Mittel und Wege zur Verfügung, gegen feindliche Ausländer vorzugehen, die innerhalb seiner Grenzen gefangen waren. Es gab Internierungslager und Rückführungsprogramme. Doch die Bürokraten und Diplomaten, die sich mit derlei Feinheiten befassten, waren in der Armee untergetaucht und aller Voraussicht nach nicht mehr am Leben. Seit dem späten Kriegseintritt der Vereinigten Staaten verschlug es nur noch wenige ihrer Bürger hinter die feindlichen Linien. Poe, der sich längst nicht mehr als Amerikaner fühlte, befand sich in einer äußerst sonderbaren Lage. Kaum einer der Passanten wusste um die tatsächliche Bedeutung seiner lachhaften Armbinde. Er wurde weitaus häufiger von vornehmen Damen angegangen, die ihm nahelegten, er möge seine Pflicht in Uniform erfüllen, als von patriotischen Seelen, die in ihm einen Todfeind der Habsburger erkannten.
    Das Zifferblatt der Uhr, groß wie ein Wagenrad, war in eine klassizistische Orgie aus schmuddeligem Marmor eingelassen,
welche über einer Tür befestigt hing, die selbst einen Hünen doppelt und dreifach überragte. Bei ihr dauerte die Sekunde eineinhalbmal länger als bei Poes Taschenuhr. Er verglich sein Chronometer mit der Uhr, und es schien, als hätten sich die beiden Zeitanzeiger verschworen, mit derselben Geschwindigkeit zu laufen. Als er die Uhr schließlich in seine Westentasche zurückschob, wurde der Wandzeitmesser wieder langsamer. Quälende Pausen dehnten jedes Ticken.
    Er hatte keine Heimat mehr, doch was seinen Fall noch komplizierte, war Die Schlacht von St. Petersburg. Obgleich es allenthalben in den Schmutz gezogen wurde, bewahrte ihn das Buch vor dem leidigen Schicksal, in ein Kriegsgefangenenlager verbracht zu werden. Im Falle einer Rückführung wäre ihm in seinem Geburtsland gewiss kein freundlicher Empfang zuteilgeworden. Da er im Sezessionskrieg für die Sache der Rebellen gefochten hatte, weigerte er sich, die Vereinigten Staaten mit ihrer jetzigen Verfassung anzuerkennen. Während Wilson heuchlerisch Neutralität gepredigt hatte, war er heimlich der Triple Entente zu Hilfe geeilt; Poe trat bekanntermaßen offen für den gerechten und unausweichlichen Triumph der Mittelmächte ein.
    Zu Beginn des Krieges hatte er versucht, ein Offizierspatent in den Armeen Österreich-Ungarns zu erwerben. Von Neidern und Narren am

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