Die Vampire
Rasierklingen. Das Tarnnetz wehte herein. Ein starker Wind fegte über den Fußboden des Turmzimmers.
Die Wissenschaftler umklammerten widerspenstige Notizen. Poe schauderte in seinem Überzieher.
Ten Brincken und Rotwang umkreisten den Flieger, Beschwörungen murmelnd. Außerstande, sich der Anziehung der Kreatur zu widersetzen, trottete Poe den beiden hinterdrein. Manfred von Richthofen war kein Mensch mehr. Er verströmte einen strengen Tiergestank, der Poe in die Nase stach und ihm die Tränen in die Augen trieb. Der starke Moschusgeruch brannte wie Pfeffer auf der Zunge.
Poe suchte krampfhaft nach Vergleichen: eine gigantische Chimäre, eine kriegerische Bestie, ein mörderischer Engel, ein germanischer Halbgott. Nichts von alledem traf zu. Wie hatte der Baron sich ausgedrückt? »Ich bin ich und weiter nichts.«
Die Wissenschaftler wichen zurück, und Poe stand allein zu Füßen des Giganten und hob den Blick. Das Tarnnetz vor der Öffnung wurde beiseitegeschoben, und Richthofen marschierte zur Absprungrampe. Seine Schritte ließen die Steinfliesen erzittern. Poe hielt sich im Schatten seiner Schwingen.
Richthofen zog Kopf und Schultern ein, zwängte sich durch den Mauerspalt und ging auf der Rampe in Stellung. Seine Brust schwoll, und die kühle Nachtluft blähte seine Flügel.
Poe scherte sich nicht um den Wind und folgte dem Baron. Die Rampe ragte ins Leere. Unter ihnen lag ein Meer von Finsternis. Nur die sich im See spiegelnden Sterne ließen erkennen, wie hoch sie über der Erde waren. Mündungsblitze markierten die wenige Meilen entfernten Schützengräben. Trotz des donnernden Bombardements waren immer wieder spitze Schreie zu hören.
Richthofen trat an die Kante der Absprungrampe und breitete die Schwingen aus wie schwarze Segel. Kürten, der durch ein Seil um die Hüfte mit Haarmann verbunden war, damit er nicht von der Rampe geweht wurde, verriegelte die Haken an den Stiefeln
des Barons und kettete die Beine bis zum Knie zusammen. In großen, an den Schenkeln des Fliegers befestigten Ledertaschen steckten zusätzliche Trommelmagazine. Auf dem Kopf hatte er einen Panzerhelm mit Aussparungen für die abstehenden Ohren. Die meisten Kameraden des Barons trugen Schutzbrillen, wenn sie die Gestalt gewandelt hatten, doch Richthofen verachtete derlei Bequemlichkeiten. Seine Augenhöhlen hatten sich halbkugelförmig vorgewölbt und boten ihm natürlichen Schutz.
Poe stemmte sich gegen den Wind und näherte sich dem Baron. Theo mahnte ihn zur Vorsicht. Ewers betete, dass Poe vom Sturm davongetragen und im Wald verschüttgehen möge.
Der Baron wandte sich um, öffnete den Mund und entblößte seine ellenlangen Hauer. Sein Schlund war eine rote Wunde in dem mit schwarzem Pelz bewachsenen Gesicht.
»Ich habe Hunger, Dichter«, sagte er. »Wie geht gleich dieser Kinderreim: ›I smell the blood of an Englishman‹?«
Poe war perplex. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der verwandelte Baron noch sprechen konnte. Seine Stimme hatte sich kaum verändert.
»Im Falle eines Falles schreiben Sie meinen Nachruf.«
Als er die Schwingen spreizte, drehten sich Richthofens Schultergelenke. Er kippte vornüber und ließ sich stocksteif von der Rampe fallen. Der Rückstoß zwang Poe in die Knie.
Der Baron tauchte in die Tiefe und schraubte sich dann langsam zu den Sternen empor. Er ließ sich reglos auf dem Luftstrom treiben, schwang sich allein durch Willenskraft in immer größere Höhen auf. Ein gelegentlicher Flügelschlag genügte.
Als Poe sich aufzurichten versuchte, traf ihn ein eisiger Windstoß. Zitternd glitt er aus, fiel hin und rutschte auf die Kante zu. Der Baron hatte ihm Windschatten geboten. Nun war Poe allein auf der Rampe, und der Sturm drohte ihn fortzureißen. Vorsichtig
stand er auf und fand festen Halt. Richthofen hatte die Schützengräben fast erreicht. Feuerschein färbte seinen Bauch fahlrot. Er segelte rasch und elegant dahin.
Theo zog Poe in den Turm zurück.
»Sie müssen vorsichtiger sein, Eddy. Ich hätte allergrößte Schwierigkeiten, Mabuse Ihren Verlust zu erklären.«
Poe zitterte immer noch.
Die Wissenschaftler steckten die Köpfe zusammen, füllten Formulare aus und erörterten unwichtige Dinge. Die Ordonnanzen schafften Ordnung. General Karnstein stand an der Stelle, wo sich der Baron verwandelt hatte, und blickte auf Richthofens Morgenmantel hinunter. Kürten fischte das Kleidungsstück wie ein Kammerdiener vom Boden und klopfte es ab.
Theo schlug die Hacken zusammen
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