Die Vampire
Mühe genommen, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen, wenn auch nur eine aus Blei. Er presste die beiden Hälften seines Schädels zusammen, damit der Riss verheilen konnte.
Poes Gedanken überschlugen sich. Er hatte Ruhm und Ehre gesucht und Mörder und Halunken gefunden.
Theo warf einen teilnahmslosen Blick auf Ewers’ Wunden und attestierte dem Vampir eine gute Überlebenschance.
»Wer war das?«, fragte Poe.
»Nur ein Flieger … ist hierher zurückgekehrt«, antwortete Ewers mit schmerzverzerrter Miene. »Göring. Er wollte Ihr Manuskript, Poe.«
»Der Registrator«, sagte Theo. »Das leuchtet ein. Solange Aufzeichnungen existieren, werden sie den Krieg gewonnen haben. Die Deutschen haben zu viele Helden. Die Buchhalter müssen
sie ausmerzen. Göring, Mabuse, Dracula. Allesamt Buchhalter, keine Soldaten. Denken Sie nur an den Grafen und seine geliebten Eisenbahnfahrpläne. Glänzende Ruhmestaten verkommen in den Händen dieser Börsenmakler und Finanzbeamten zu blassen Zahlen.«
»Und mein Manuskript? Wo ist es?«
Ewers versuchte ein Lächeln. »Göring wollte es nach Berlin schaffen. Um es zu veröffentlichen. Das musste ich verhindern.« Ewers verdrehte die Augen in Richtung seiner Kopfverletzung. »Ich weiß auch nicht, weshalb ich meine grauen Zellen daran verschwendet habe, Ihr Werk vor seinen Verlegern zu retten. Sie sind mir auf den Tod zuwider, aber ich würde alles darum geben, wenn ich Ihre Fähigkeiten besäße, so verbraucht und verkümmert sie auch sind. Nennen Sie es meinetwegen Neid. Deshalb habe ich versucht, Ihr Buch zurückzuhalten. Aus Neid.«
Der Verwundete fummelte ungeschickt am Kragenknopf seines zu engen Waffenrocks. Theo half ihm, seine Kleider zu lösen, damit er Atem schöpfen konnte. Mit Poes Handschrift bedeckte Seiten quollen hervor.
»Sie sind ein großer Schriftsteller, Herr Poe. Das muss ich Ihnen lassen. Aber Sie sind vollkommen verrückt. Ich habe Ihnen vermutlich einen Gefallen erwiesen. Göring hat nur die ersten drei Seiten Ihres Manuskripts, ergänzt durch einige meiner Erzählungen. Solide Arbeit, aber vergebene …«
Ewers verlor das Bewusstsein. Theo stand auf, seine Hände waren blutverschmiert. Poe hatte sein Entsetzen abgeschüttelt und versuchte krampfhaft, die Zusammenhänge zu ergründen. Endlich hatte er die fehlenden Steine des Puzzles in der Hand.
Poe und Theo standen am Seeufer und warteten auf den Sonnenaufgang. Der Schlachtenlärm hatte sich hinter die Linien, in feindliches Gebiet, verzogen.
»Helden machen ihnen Angst, Eddy. Diesen armseligen Gestalten mit ihren armseligen Büchern. Sie dürsten nach Ruhm und laben sich daran wie wir an fremdem Blut. Ihr Buch sollte ein Denkmal werden, ein glanzvolles Monument zum Ansporn immer neuer unerschrockener Helden. Sie werden verglühen wie Kometen und elendig krepieren, während die Buchhalter sich weiterhin durch die Jahrhunderte schleimen. Millionen sind in diesem Krieg gestorben. Anonyme Opfer. Das hat Dracula aus uns gemacht. Nichtssagende Namen in einem Buch der Toten.«
Poe betrachtete sein Manuskript. In diesem Buch schwelte der Funke des Genialen. Es war ein Traum, eine Erleuchtung. Die Geschichte dieses wackeren Ritters der Zukunft würde in Generationen junger Knaben den Wunsch wachrufen, ihrem deutschen Vaterland zu dienen wie dereinst Manfred von Richthofen.
»Dracula schert sich einen Dreck um die Richthofens, Eddy. Um die Großen, Tapferen und Besessenen. Er umgibt sich lieber mit Leuten wie Göring, blödsinnigen Bürokraten des Todes.«
Poe ließ die ersten Seiten des Manuskripts auf den See hinauswehen. Als sie auf der glatten Wasseroberfläche schwammen und die Tinte zu verlaufen begann, ging ihm ein Stich durchs Herz. Dies waren vielleicht die letzten Worte seines Genius, die letzten Worte, die er jemals schreiben würde. Er versank in dumpfem Brüten.
Theo legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Plötzlich sprang Poe auf und warf die Blätter in die Luft. Sie bauschten sich zu einer weißen Wolke, schneiten auf den See herab, ballten sich zu nassen Klumpen und trieben noch ein Stück übers Wasser, ehe sie in die Tiefe gerissen wurden. Poe zog seinen Rock aus, ließ den Daumen über die frisch erworbenen Rangabzeichen gleiten und warf das Ding dann in den See, wo es unter einem Teppich aus Papier verschwand.
»Hiermit nehme ich meinen Abschied«, sagte er.
Poes Rockärmel baumelten wie die Arme einer Leiche. Eine unbekannte Strömung in der Mitte des Sees zerrte
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