Die Vampire
ersten Krieges gestanden hatten. Nun hörte sie, wie viele ihrer Hoffnungen sie an Edwin Winthrop vom Diogenes-Club geknüpft hatten, den sie selbst nie kennengelernt
hatte, sich aber gut von ihren Geschichten her vorstellen konnte. Sie bereute es fast, nicht dort im blutigen Schlamm Frankreichs gewesen zu sein, im Dickicht einer ebenso absurden wie entsetzlichen Intrige.
Sie war das Geschöpf eines langsameren Zeitalters, in dem die Zeit durch Jahreszeiten gemessen wurde und nicht durch das Ticken der Armbanduhren. Sie hatte sich nie an dieses Jahrhundert der Düsenflüge und Sputniks, der Breitleinwandfilme und des Rock’n’Roll gewöhnt. Charles hatte mehr durchlebt, als sie je durchleben würde, und war davon mehr berührt worden. Dass nichts sie berührte, nahm sie nun als Schwäche wahr.
Dafür war eben Kate da. Sie erzählte vom zweiten Krieg, den sie am Boden miterlebt hatte, und Charles von Landkarten und Depeschen. Kates Engagement war so selbstlos, sie tat alles dafür, dass es gerechter in der Welt zuging. Ihre Leidenschaft brannte mit einer Heftigkeit, die Geneviève leider abging. Wenn es einen Gott gab, dann musste Kate Ihm näher sein.
Charles wurde müde, bestand aber darauf, bei »den Mädchen« zu bleiben. Ihm sackte ab und zu der Kopf herunter, er schlief sogar.
»Sieht ganz so aus, als ob Lord Ruthven nach der nächsten Wahl nicht mehr Premierminister ist«, sagte Kate. »Er hat sich von Suez nie erholt. Aber wir dachten schon einmal, dass er weg vom Fenster wäre. Als Winston im Krieg übernahm, war ich mir hundertprozentig sicher, dass wir ihn jetzt los wären. Aber er kehrte zurück. Das ist etwas, worauf ich gern verzichten würde, Politiker, deren Karrieren endlos weitergehen. Und Ruthven ist das reinste Chamäleon. Er fügt sich in die Umgebung ein, und auf einmal ist er wieder da, als ein anderer Mensch.«
Geneviève fragte Kate nach den neuen Filmen, Stücken, Büchern, der Musik. Wie sehr hatte London sich verändert? Wen hatte sie in der letzten Zeit kennengelernt? Wer war berühmt?
»Der Daily Mirror hat kürzlich eine Umfrage über Vampire gemacht, wer der am meisten bewunderte und wer der unbeliebteste ist. Im Zusammenhang mit einer Ausstellung bei Madame Tussaud. Was meinst du, wer ist der prominenteste britische Vampir heutzutage?«
Geneviève hatte keine Ahnung. »Edmund Hillary?«
»Auch nicht schlecht. Nein, Cliff Richard.«
»Wer?«
»Ein Popsänger. Living Doll?«
Dieses Lied hatte Geneviève schon gehört.
»Überleg dir das mal, Geneviève. Er wird nie alt werden, nie seine Stimme verlieren. Hätte es je einen Caruso gegeben, wenn Farinelli immer noch da gewesen wäre? Hätte Wagner gegen den hundertjährigen Mozart bestehen können? In vierzig Jahren, wenn Sänger, die heute noch gar nicht geboren sind, ihren eigenen Ausdruck finden sollen, wird Cliff Richard immer noch da sein und von seiner crying, talking, sleeping, walking living doll träumen.«
»Man sagt, dass nur wenige Vampire Künstler von Rang werden«, sagte Geneviève.
»Es gibt Ausnahmen. Glaub mir, Mr. Richard ist keine.«
Kate versuchte das Lied zu summen, über das sie geredet hatte. Geneviève lachte.
»Die Geschichte schnurrt zu einer Hitparade zusammen«, sagte Kate. »Und wir haben den Dracula Cha-Cha-Cha schon alle viel zu lang getanzt.«
Eine Glocke läutete.
Geneviève ging rasch zur Tür. Es war ein Diener in Livree, mit einer Botschaft.
Geneviève nahm sie und sagte ihm auf Wiedersehen, dann schlitzte sie den Briefumschlag mit einer verlängerten Daumenkralle auf. Drei Karten mit Goldrand fielen heraus. Sie kehrte
ins Wohnzimmer zurück, wo Charles alarmiert und Kate beeindruckt war.
»Wir sind zu einem Fest eingeladen«, verkündete Geneviève, »vom Grafen Dracula und seiner Zukünftigen, Prinzessin Asa Vajda. Stellt euch bloß vor.«
II
LA DOLCE MORTE
Aus dem Parlamentsbericht der Londoner Times vom 30. Juli 1959:
… der Abgeordnete Hamer Radshaw (Lab.) fragte: »Haben Sie eine Einladung zur Verlobung von Vlad Dracula, dem ehemaligen Prinzgemahl, erhalten, und wenn ja, werden Sie der Vermählung dieses anrüchigen Individuums und seiner blutbesudelten Braut beiwohnen?« Der Premierminister Lord Ruthven (Kons.) antwortete: »Sollte eine solche Einladung ausgesprochen werden, würden Vertreter sowohl der Regierung als auch der getreuen Opposition Ihrer Majestät selbstverständlich alle Erwägungen anstellen, die zu einer angemessenen Antwort führen.« Mr. Radshaw
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