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Die Verbannung

Titel: Die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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seinen Stiefeln im Wasser. »Tink«, nuschelte er, »glaubst du, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann, wer und was er im Leben sein will?«
    Die Fee lachte. »Nein. Wenn das möglich wäre, hättest du dich sicherlich dafür entschieden, in Schottland geboren zu werden.«
    »Nein, ich meine ...« Verzweifelt versuchte Dylan, seine Gedanken zu ordnen. Sein Kopf fühlte sich an wie mit Schlamm gefüllt. Er schüttelte den letzten Tropfen ab, zupfte seinen Kilt zurecht, dann setzte er sich auf den Pier und ließ die Füße baumeln. »Was meine ich eigentlich? Ich meine ... ich will wissen, welches Maß an Kontrolle ich über mein eigenes Leben habe.«
    Leises Gekicher erklang hinter ihm. »Ich habe dir doch gesagt, wozu du bestimmt bist. Versuch nicht, es zu leugnen.«
    »Das ist deine Meinung, Tink. Aber was, wenn das gar nicht zutrifft? Was, wenn mir etwas ... etwas ganz anderes bestimmt ist? Was, wenn es mein Schicksal ist...«, er beugte sich vor und starrte in das pechschwarze Wasser hinab, »... da reinzufallen und zu ertrinken? Was, wenn ...«
    »Du bist betrunken, und wenn du betrunken bist, redest du immer Unsinn.«
    »Was, wenn ich nie wieder nüchtern werde? Wenn sich dieser Zustand nie ändert und mich nie wieder irgendetwas berührt? Häh? Was dann? Was, wenn mir ab heute alles scheißegal ist, wenn von mir aus die ganze verdammte Welt zum Teufel gehen kann? Ich meine ... ich meine ...« Er holte tief Atem, als ihm klar wurde, worauf sein Monolog hinauslief. »Mein Vater war Alkoholiker. Ist er noch. Wird er auch immer bleiben. Man sagt, dass Kinder von Säufern später oft selbst zu Säufern werden. Mein Dad ... weißt du, ich kann mich nicht daran erinnern, dass er auch nur einen einzigen Tag nüchtern gewesen wäre. Nicht... einen ... einzigen ... Tag.«
    »Ich habe dich aber oft genug stocknüchtern erlebt«, bemerkte Sinann. »Manchmal schon zu nüchtern, wenn du mich fragst.«
    »Stimmt. Und ich hab nie eine Frau geschlagen. Noch nicht mal Cody, wenn sie beim Spielen gemogelt hat. Mädchen ... Frauen schlagen, so was tun nur Feiglinge.«
    »Ist das auch ein Punkt, in dem du deinem Vater nicht nacheifern möchtest?«
    Dylan nickte und bereute es augenblicklich, als sich die Welt um ihn zu drehen begann. »Als ich ihn das letzte Mal sah, hätte ich ihn beinahe umgebracht, weil er meiner Mom vor meinen Augen eine Ohrfeige verpassen wollte. Da habe ich erkannt, dass ich verschwinden musste und nie wiederkommen durfte, weil ich ihn sonst wirklich eines Tages totschlagen würde.« Er spähte ins Dunkel, konnte die Fee aber nirgends entdecken. »Aber wenn ich nun genauso ende wie er? Wenn ich tief in meinem Herzen genauso ein Stück Scheiße bin wie er und es nur noch nicht weiß?«
    Sinann schnalzte tadelnd mit der Zunge. »O nein, junger Dylan, dein Jahwe hat dich anders geschaffen als deinen Vater. Du bist dazu auserkoren, Großes zu leisten. Deshalb wirst du auch nicht ertrinken, weder im Whisky noch im Wasser. Ich nehme an, sollte ich dich jetzt vom Pier stoßen, würdest du wie ein Korken auf der Wasseroberfläche treiben, bis jemand kommt und dich herausfischt.«
    Dylan seufzte, blickte zwischen seinen Stiefeln hindurch noch einmal auf das gurgelnde schwarze Wasser und stöhnte. »Vermutlich hast du Recht, Tink. Ich kann nämlich schwimmen wie ein Fisch.«
    Vom anderen Ende des Piers drang plötzlich dumpfes Hufgetrappel und das Knirschen von Wagenrädern herüber, doch es klang so gedämpft, dass es Dylan vorkam, als habe er Watte in den Ohren. Er spähte, den Pfeiler immer noch fest umklammert haltend, suchend ins Dunkel, konnte jedoch nur die Umrisse eines großen Schattens wahrnehmen. An der Kutsche - oder was immer es auch war - hingen kei-ne Laternen, und als das Gefährt langsam näher kam, sah Dylan, dass die Hufe der Pferde und die Räder des Wagens mit Lumpen umwickelt waren, damit sie so wenig Lärm wie möglich verursachten. Vom Alkohol betäubt starrte er das seltsame Gefährt benommen an. Sinann versetzte ihm einen Rippenstoß. »Die Brosche! Rasch!«
    Dylan wühlte in seinem sporran, förderte die Wappenbrosche des Matheson-Clans zu Tage und versuchte sie an seinem Mantel zu befestigen, doch seine Finger zitterten zu stark. Sinann half ihm ungeduldig dabei. Als der Wagen fast bei ihm angelangt war, rührte er sich nicht mehr von der Stelle, denn der Talisman machte ihn nur so lange für andere unsichtbar, wie er sich nicht bewegte. Nur seine Augen folgten der vorüberfahrenden

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