Die Verbannung
Kutsche. Ein großer, kräftiger Mann saß auf dem Bock, und im hinteren Teil des Gefährtes drängten sich mehrere Menschen Schutz suchend aneinander. Keiner gab einen Laut von sich.
Die Kutsche fuhr weiter den Pier entlang. Dylan folgte ihr in sicherer Entfernung. Die kalte Nachtluft vertrieb den Nebel in seinem Kopf, aber er wusste, dass er noch immer stockbetrunken war. Zu allem Übel hatte er auch noch sein Schwert in dem Lagerhaus zurückgelassen. Er zog Brigid aus der Scheide und hoffte inbrünstig, den Dolch nicht benutzen zu müssen.
Die Kutsche hielt am Ende des Piers an. Dylan schlich leise näher, sorgfältig auf ausreichenden Abstand bedacht, denn jetzt war er für andere wieder sichtbar. Er hörte, wie Ruderblätter durch das Wasser glitten und ein Boot am Pier anlegte. Der Kutscher sprang vom Bock, ein zweiter Mann bezog hinter dem Wagen Posten. Dylan versteckte sich hinter einem Pfeiler, um das Geschehen unbemerkt verfolgen zu können. Die beiden Männer erteilten den Insassen der Kutsche leise Befehle, dann öffneten sie die Klappe am Heck und hoben die Leute einzeln heraus. Dylan erkannte, dass es sich um eine Anzahl schmutziger, in zerschlissene Lumpen gehüllte Frauen handelte, von denen einige ebenso schmuddelige Kinder an der Hand hielten. Männer sah er keine, abgesehen von den beiden Bewachern, die die Gruppe jetzt zum Rand des Piers trieben. Dylan hörte leises Weinen und deutlich vernehmbares Kettengeklirr, dann befahl eine der Frauen der Weinenden, um Himmels willen den Mund zu halten, woraufhin diese nur noch heftiger zu schluchzen begann. Eines der Kinder stimmte prompt mit ein.
Der erste Mann versetzte dem weinenden Jungen einen so harten Schlag gegen den Hinterkopf, dass der Kleine zu Boden stürzte. Dylan machte Anstalten, sich auf den Kerl zu stürzen, hielt aber inne, als Sinann ihn warnend am Kragen zupfte. In seiner Verfassung war er ohnehin niemandem eine große Hilfe. Der Junge schnüffelte noch einmal laut, dann rappelte er sich wieder hoch. Die Männer führten ihre Gefangenen zu einer Leiter und befahlen ihnen, in das unten wartende Boot zu klettern. Einer der Männer stieg ebenfalls mit ein, der andere setzte sich wieder auf den Kutschbock, wendete den Wagen und fuhr davon. Dylan sah der sich entfernenden Kutsche nach und überlegte flüchtig, ob er die Verfolgung aufnehmen sollte, doch Sinann flüsterte ihm zu. »Da drüben. Auf dem Wasser.«
Dylan drehte sich um und trat an den Rand des Piers. Obwohl die schmale Sichel des Mondes nur schwaches Licht spendete, konnte er ein paar vereinzelte Schiffe erkennen, die in der Bucht ankerten. Gelegentlich blitzte auf einem Deck ein Lichtstrahl auf. Dann hörte er, wie das Boot vom Pier abstieß und die Ruder im Wasser plätscherten. Dylan versuchte, den Kurs zu bestimmen, den es nahm, kniff die Augen zusammen und entdeckte weit draußen am Horizont noch ein großes Schiff, das aussah, als sei es zwischen Wasser und Horizont eingeklemmt. Keine Laterne brannte an Deck, und auch aus den Luken drang kein Licht.
»Kannst du irgendetwas erkennen, Tink?«
»Meine Augen sind auch nicht besser als deine.«
»Wie heißt das Schiff da hinten? Flieg hin und schau nach.«
»Och, frag lieber die Lachse. Sie wissen mehr als ich.«
Dylan starrte sie fassungslos an. Er musste noch betrunkener sein, als er gedacht hatte. Wahrscheinlich litt er bereits unter Halluzinationen. »Häh? Was hast du gesagt?«
»Ruf die Lachse. Sie wissen über alles Bescheid, was hier am Wasser geschieht. Klettere die Leiter hinunter bis zur letzten Sprosse und wiederhol dann genau das, was ich dir vorsage.« Als Dylan nicht reagierte, fuhr sie ihn an: »Na los! Geh schon!«
Er gehorchte, stieg vorsichtig die Leiter hinunter, bis das eiskalte Wasser gegen seine Stiefel schwappte, und klammerte sich an dem glitschigen Holz fest. Er hatte keine Lust, ein unfreiwilliges Bad zu nehmen. Sinann ließ sich auf der Sprosse neben seinem Kopf nieder und flüsterte ihm ins Ohr: »Im Namen Lirs, des Gottes der Meere ...«
Gehorsam wiederholte Dylan: »Im Namen Lirs, des Gottes der Meere ...«
»Im Namen Brigids, der Tochter des Braunen Dugall ...«
Auch das wiederholte er.
»Rufe ich die, die in den Tiefen des Meeres, in den Fluten der Seen und in den Strömen der Flüsse leben.«
Dylan murmelte die Beschwörungsformel vor sich hin und wartete. Lange Zeit geschah nichts. Er verlagerte sein Gewicht auf der wackeligen Leiter und brummte: »Klappt wohl nicht,
Weitere Kostenlose Bücher