Die Verbindung: Thriller (German Edition)
behielt.
Er beneidete Helen nicht um den Job, das alles auf die Reihe zu kriegen, aber was bedeutete das jetzt für ihn? Carlyle freute sich immer auf seine dreißig Minuten mit Alice, während sie sich in Schlangenlinien auf das Barbican Centre zubewegten, das auch die City School for Girls beherbergte, jene berühmte Privatschule, die einen bestürzenden Anteil ihres Haushaltseinkommens absorbierte. Auf geistiger Ebene war Carlyle kein Anhänger privater Schulbildung, aber die Vorstellung einer reinen Mädchenschule war nicht ohne Reiz, da alles, was dazu beitrug, ihnen die Jungs so lange wie möglich vom Leibe zu halten, eine gute Sache sein musste.
Nicht, dass diese Entscheidung viel mit ihm zu tun gehabt hätte. Dafür war sie zu wichtig. Noch bevor Alice geboren wurde, hatte Helen darauf bestanden, dass ihr Kind auf eine Privatschule gehen würde, falls sie – das heißt Helen – beschlössen, dass das am besten sei. Und das hatten sie – Helen – auch getan. Daher schrieb Carlyle rund fünfzehntausend Pfund pro Jahr – nach Abzug der verdammten Steuern – in den Wind, Geld, das sie wirklich nicht hatten, und Alice besuchte die City.
Wenigstens gefiel ihr die Schule, und dafür hätte Carlyle mit Freuden viel mehr als fünfzehntausend Pfund bezahlt. Seine Prinzipien mussten schließlich mit den tatsächlichen Gegebenheiten des Elterndaseins zu vereinbaren sein. Jetzt konnte er nur noch hoffen und beten, dass sie in der Lage wäre, sich auf das größtmögliche Stipendium zu bewerben – und es zu bekommen –, wenn sich die Möglichkeit ergab. In der City musste man elf Jahre alt sein, bevor man sich bewerben konnte, und deshalb zählte er die Tage bis dahin, sehr zu Helens Missfallen.
Auf dem Weg zur Schule holten sie sich irgendwo was zum Frühstücken, und dann hörte er sich Alices Grübeleien zu den verschiedensten Themen an, von Haustieren – und warum sie keine haben dürfe – über den Zweiten Weltkrieg – warum hat Japan die Deutschen unterstützt? – und Vampire – warum sterben die nicht? – bis hin zu Mundwasser. Alice hatte ihm eines Tages mitgeteilt, dass es ihr gefiele, die verschiedenen Farben auszuprobieren, weil sie ein »abenteuerlustiges Mädchen« sei. Carlyle konnte sich nichts auf der ganzen Welt vorstellen, was er lieber täte, als mit seiner Tochter durch die Straßen zu spazieren und ihren Gedanken über Gott und die Welt zu lauschen. Er fürchtete den unvermeidlichen Tag – der höchstens noch drei oder vier Jahre entfernt war –, an dem sie sich weigern würde, sich von einem ihrer beiden Eltern in die Schule bringen zu lassen, und stattdessen forderte, allein oder mit ihren Freundinnen gehen zu dürfen. Gott allein wusste, wozu ihre Lust auf Abenteuer sie dann verleiten würde.
Demnach standen seine Familienpflichten inzwischen fest. Auf der anderen Seite überlegte er fieberhaft, wie er der derzeitigen Situation begegnen und sich eine Antwort einfallen lassen konnte. Vorzugsweise die richtige Antwort.
Helen wusste, was diese Pause bedeutete. »John?«
Die Drohung von Vergeltungsmaßnahmen hing in der Luft, also holte er tief Luft. »Klar. Gib mir eine halbe Stunde oder so. Ich werde rechtzeitig da sein. Ich bringe dir auch einen Kaffee mit.«
»Gut. Danke.« Seine Frau klang eher skeptisch als dankbar. »Ein Milchkaffee wäre prima … und ein Schokocroissant.«
»Kein Problem. Bis gleich.« Carlyle schaltete das Telefon aus und warf den Apparat aufs Bett. Mit ungeheurer Willenskraft erhob er sich anschließend und ging ins Badezimmer. Ob er vielleicht duschen könnte? Er hasste das Gefühl, durch und durch schmuddelig zu sein, das er nach einer bei der Arbeit verbrachten Nacht hatte. Am Ende entschied er, dass das ein bisschen zu weit ginge. Und außerdem zu viel Zeit verschlänge. Stattdessen begnügte er sich damit, lange und ausgiebig zu pinkeln. Anschließend schaute er in die Schüssel. Zu dunkel, dachte er. Ich muss mehr Wasser trinken. Während er den Reißverschluss hochzog, machte er einen halben Schritt zum Waschbecken und spritzte sich etwas Leitungswasser ins Gesicht. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, schaute er in den Spiegel, aus dem ihn das übliche fragende, plebejische Gesicht anstarrte. Er streckte die Brust raus und stellte sich so gerade hin wie möglich. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Bartstoppeln und stellte fest, dass die Haare zunehmend grau wurden. Ich werde mich heute nicht rasieren, beschloss er. Das tut meiner Haut
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