Die verborgene Seite des Mondes
wahrscheinlich«, erwiderte Julia. »Und wie ist es dir ergan gen?«
»Frag lieber nicht.«
»Warum? Was war denn los?«
»Ach, nichts Besonderes. Nur dass deine Großmutter mich für ein verwöhntes Etwas aus der Stadt hält und nichts auslässt, um mir zu zeigen, wie hart das Leben auf der Ranch ist. Selbst jetzt noch, wo dein Vater tot ist, will sie mir beweisen, dass ich nicht die Richtige für ihn war.«
»Warst du denn die Richtige?«
Hanna rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann sah sie ihre Tochter nachdenklich an. »Ich habe deinen Vater geliebt, Julia. Warum willst du mir das wegnehmen?«
»Ich habe nur gefragt, ob du glaubst, dass du die Richtige warst. Du hast ständig an ihm herumgemäkelt oder hast du das schon ver gessen?«
»Wir haben uns in letzter Zeit nicht mehr so gut verstanden, das ist wahr. Es wurde immer schwieriger, mit ihm zusammenzuleben und seine Gedanken zu verstehen. Dein Vater wusste, wie die Dinge auf der Ranch liefen. Dass er gebraucht wurde, von seinen Eltern und vor allem auch von seinem Sohn. Das hat ihn gequält.«
»Warum ist er dann nicht zurückgegangen?«, fragte Julia trotzig. Sie wollte das Ganze verstehen und nicht bloß einen Teil davon.
»Deinetwegen, Julia. Er ist deinetwegen nicht zurückgegangen. Weil er einmal in seinem Leben etwas richtig machen wollte.«
»Das hat er«, sagte sie, Tränen in den Augen. Etwas brannte in ih rer Kehle. »Er hat, verdammt noch mal, alles richtig gemacht.«
»Ja, ich weiß.« Hanna klang bitter. »Er hat immer alles richtig ge macht und ich alles falsch. Wahrscheinlich fragst du dich, warum er sterben musste und nicht ich. Meinen Verlust hättest du vermutlich leichter verschmerzen können.«
Eine heiße Woge der Scham rollte durch Julias Körper, als sie ihre Mutter so reden höre. Vor einer Weile hatte sie das tatsächlich ge dacht. Jetzt schämte sie sich für ihre Gedanken. »Das ist nicht wahr«, sagte sie.
»Ach nein? Und warum bist du dann so zu mir? Glaub mir, es war nicht immer leicht mit deinem Vater. Ich habe ihm nie zum Vorwurf gemacht, dass ich den Familienunterhalt verdienen musste. Aber du hast mir ständig vorgehalten, dass ich kaum Zeit für dich hatte. Ich musste so viel arbeiten, Julia. Ich habe nämlich auch die Tickets be zahlt, mit denen dein Vater hierherflog, um seine Familie zu besu chen. Ich habe versucht, ihn glücklich zu machen, aber meine Fähigkeiten reichten anscheinend nicht aus. Was er brauchte, konnte ich ihm nicht geben.«
»Dann warst du also nicht die Richtige für ihn?«
Hanna seufzte tief. »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall war Deutsch land das falsche Land für deinen Pa.« Eine Weile schwieg sie und sagte dann: »Es tut mir leid, dass ich oft nicht für dich da war, Julia. Ich habe mir fest vorgenommen, dass es in Zukunft anders wird. Das verspreche ich dir.«
Julia konnte nicht antworten. Sie sprang auf und verließ fluchtar tig den Trailer.
Ziellos und innerlich aufgewühlt lief Julia los, den Fahrweg ent lang, der an Simons Wohnwagen und am alten Blockhaus vorbei führte. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte den wilden Schmerz wieder an die Oberfläche geholt und nun war es Julia, als würde ei ne Faust ihr Herz zusammendrücken.
Als sie an einer Ansammlung von Zäunen und klapprigen Ställen vorbeikam, hörte sie auf einmal ein leises Geräusch, das wie ein Me ckern klang. Julia ging ihm nach und entdeckte in einem offenen Stall zwei winzige weiße Ziegenkinder, die auf zitternden Beinen standen.
Simon kniete bei der Mutter und redete beruhigend auf das Tier ein. »Gut hast du das gemacht, Roxy«, sagte er und strich der Ziege liebevoll über den Hals. »Sie sind wunderschön, deine beiden Kleinen.«
Julia musste lächeln und wischte sich die Tränen aus den Augen winkeln. Wunderschön war vielleicht nicht das richtige Wort. Die beiden hatten ein nasses, strubbeliges Fell, in dem Staub und Sa menkörner hingen. Die Ohren des einen Zickleins waren kurz und standen zu beiden Seiten vom Kopf ab. Die Ohren seines Geschwis terchens waren lang wie Hasenohren und hingen schlapp nach un ten. Es war ein zu lustiger Anblick und er vertrieb für einen Augen blick Julias trübe Gedanken.
Ein schwarzer Bock, den Julia bisher noch nicht bemerkt hatte, kam aus dem Stall und fixierte Simon mit seinen starren Ziegenau gen. »Hey, Mr Black«, sagte er. »Ich weiß, dass sie deine Frau ist, und ich will auch gar nichts von ihr. Es gibt nicht den geringsten Grund zur
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