Die verborgene Seite des Mondes
Vogelmädchen genannt.«
»Das konnte ich nicht wissen.«
Sie brachte ein Lächeln zustande. »Nein, das konntest du nicht.«
Am darauffolgenden Tag waren Simon und der alte Mann damit be schäftigt, am äußersten Ende der Ranch Gräben zu ziehen. Julia stromerte auf der Ranch umher, um dem Groll ihrer Großmutter aus dem Weg zu gehen. Erst zum Abendessen sah sie Simon wieder. Er war so erschöpft, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte und beinahe über seinem Teller einschlief. Trotzdem kam er zu ihr, um ihr zu helfen, als ihre Großeltern vor dem Fernseher saßen und sie in der Küche Ordnung schaffte.
»Ich schaffe das schon allein«, sagte sie. »Du musst mir nicht hel fen.«
»Okay, dann: Gute Nacht!«
Er wollte gehen, aber Julia hielt ihm am Arm fest und flüsterte: »Hast du herausgefunden, was Jason gestern Nacht hier wollte?«
»Nein. Aber er m-uss ziemlich überrascht gewesen sein, dass du nicht mit deiner Mutter abgereist bist.«
Als Julia im Bett lag, ertappte sie sich dabei, wie sie nach draußen lauschte, weil sie fürchtete, ein Motorengeräusch zu hören. Simon hatte ihr Angst eingejagt. Dabei war sie überzeugt davon, dass sie nichts zu befürchten hatte. Jason hatte sich ihr gegenüber immer freundlich verhalten. Es war einfach lächerlich, vor dem eigenen Bruder Angst zu haben.
Trotzdem wünschte sie, Simon würde auf der Couch in der Küche liegen und ihren Schlaf bewachen.
Schon vor einigen Wochen hatte sich auf der Ranch Besuch ange kündigt. Ein Fernsehsender wollte in einer Dokumentation über Amerikas Ureinwohner auch über das Ehepaar Temoke und seinen Kampf gegen die Columbus-Goldmine und das BLM berichten.
Ada mochte Fernsehleute genauso wenig, wie sie Zeitungsrepor ter oder Leute von der Regierung leiden konnte. Aber die Dokumentation war wichtig und eine gute Möglichkeit, auf die Probleme der Western Shoshone aufmerksam zu machen. Deshalb hatte Julias Großmutter damals dem Besuch des Fernsehteams auf der Ranch zugestimmt.
Die Reporter hatten sich für die Mittagszeit angekündigt und Adas Laune war noch miserabler als am Tag zuvor. Den ganzen Mor gen wetterte sie herum und trug eine griesgrämige Miene zur Schau.
Julia und Simon waren froh, dass sie das Haus verlassen konnten, um Pipsqueak und die Kühe zu füttern. Als sie zurückkamen, ver kündete Boyd auf einmal, dass er einen Termin beim Augenarzt in Elko hätte, einer größeren Stadt, zwei Stunden Autofahrt von der Ranch entfernt.
»K-ommst du mit?«, fragte Simon.
»Okay. Ich ziehe mich nur schnell um.« Julia hatte keine Lust, mit ihrer griesgrämigen Großmutter allein auf der Ranch zu blei ben.
Sie flitzte zum Trailer, breitete ihre Sachen auf dem Bett aus und überlegte, was sie anziehen sollte. Nach einer Woche in Hosen ver spürte sie Lust auf Abwechslung und entschied sich für ein meergrü nes Top und den kurzen Jeansrock, den sie zu ihrem fünfzehnten Geburtstag von ihrer Mutter bekommen hatte. Ihrem Vater war er zu kurz gewesen, aber Hanna hatte nur gelacht. So etwas würden Mädchen in Julias Alter nun mal tragen.
Simon hupte vor dem Trailer. Julia schnappte ihren kleinen Ruck sack und eilte nach draußen. Ihr Großvater ließ sie auf die Sitzbank klettern und setzte sich neben sie.
»Ich dachte, wir fahren nach Elko und nicht nach Las Vegas«, brummte er kopfschüttelnd.
Simon warf einen kurzen Blick auf Julias nackte braune Beine und grinste, als er losfuhr. Er fand einen Oldiesender und pfiff zu den Hits der Stones, von Neil Young, den Beatles oder Joe Cocker. Manchmal fragte der alte Mann etwas und Simon brüllte die Antwort.
Julia stellte fest, dass jemand den Truck notdürftig sauber ge macht hatte. Die Sitzbank war abgewischt und der Müll entfernt worden. Allerdings war alles schon wieder staubig, als die Schotter piste kurz vor Eldora Valley in eine Asphaltstraße überging.
In der Stadt brachten sie Boyd zum Augenarzt und während sie warten mussten, führte Simon Julia in seinen Lieblingsbuchladen.
Dass sie overdressed war für eine Stadt wie Elko, hatte sie schon vor einer Weile begriffen, aber daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Jeder hier, Männer wie Frauen, trug Shorts und das obligatorische T-Shirt dazu. Da fiel Julia natürlich auf in ihrem kurzen Rock. Junge Männer drehten sich nach ihr um, Mädchen steckten die Köpfe zu sammen und tuschelten.
Simon war die Aufmerksamkeit, die sie auf sich und damit auch auf ihn zog, sichtlich unangenehm. Er lief voran und
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