Die verborgene Seite des Mondes
fielen die Augen zu. Seine Kleidung, sein Haar waren staubig, sein Gesicht dreckverschmiert. Als Julia ihn schlafen schickte, pro testierte er zuerst, gab sich aber bald geschlagen.
Julia brachte ihn noch bis vor die Tür, um ihm einen Kuss zu geben, ohne, dass ihnen jemand dabei zusah. Simon klammerte sich an sie und für einen Augenblick fürchtete Julia, das Gewicht seiner Erwartungen nicht tragen zu können. Aber dann löste er sich von ihr und wankte davon. Sie sah ihm nach, bis er aus ihrem Blick verschwunden war.
Julia seufzte leise, gab sich einen Ruck und ging zurück ins Haus. Sie spülte das Geschirr, während Ada sich mit Tommy am Waschbe cken abmühte. Er mochte Zähneputzen nicht und nasse Waschlap pen waren ihm ein Gräuel.
Tommys Stöhnen, Toben und Kreischen, das »Ma-bah-ah«, seine Klicklaute, das alles gehörte inzwischen zu Julias Alltag, genauso wie das Füttern von Pipsqueak, das Kochen der Mahlzeiten und Adas merkwürdiges Geschirrspülritual. Sogar an die Hitze hatte sie sich gewöhnt, wie an alles andere auf der Ranch. Manchmal konnte sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen, wie ihr Leben zu Hause in Deutschland gewesen war. Die Ereignisse auf der Ranch hatten alles überlagert, was zuvor von Bedeutung gewesen war. Sogar der Schmerz über den Verlust ihres Vaters war in einen dunklen Winkel ihres Herzens verdrängt worden.
Julia wurde immer deutlicher klar, wie wenig sie ihren Vater ge kannt hatte und dass er vielleicht nicht so vollkommen gewesen war, wie sie es all die Jahre empfunden hatte. Vielleicht war John Te moke tatsächlich ein Träumer gewesen. Vielleicht hatte er aber auch nur keine Lust gehabt, ein Leben lang zu kämpfen, wie seine übermächtige Mutter mit ihrem grimmigen Stolz es tat.
Wenn Julia sah, was der ewige Kampf aus ihrer Großmutter ge macht hatte, dann konnte sie ihren Vater verstehen. Aber sie konn te auch ihre Granny verstehen. Dass Ada ihrem Enkelsohn immer wieder verzieh, der seinem toten Vater wie aus dem Gesicht ge schnitten war.
Weshalb hatte ihr Vater eine Waffe besessen? Hatte er sie jemals benutzt? Was war in seinem Kopf vorgegangen? Julia wusste, dass sie auf diese Fragen keine Antwort bekommen würde. Aber viel leicht konnte sie herausfinden, warum ihr Halbbruder Simon so hasste.
Zurück in ihrem Trailer, packte Julia ein paar Sachen zusammen und machte sich mit der Taschenlampe auf den Weg zu Simons Wohnwagen. Er schlief tief und fest. Sie legte sich neben ihn und war binnen weniger Minuten eingeschlafen.
21.
D er Platz neben Julia war leer, als sie am nächsten Morgen wach wurde. Simon hatte den Wecker vor dem Klingeln ausgestellt, um sie nicht zu wecken. Sie drehte sich noch einmal um und mit einem Lächeln erinnerte sie sich an Simons Hände, die sie im Schlaf be rührt hatten. Das war schön gewesen. Ein wenig wie ein Traum und doch wahr.
Es war schon kurz vor acht, als Julia das nächste Mal auf den We cker sah. Sie sprang aus dem Bett und beeilte sich, in ihre Kleider zu kommen. Wenn sie zu spät ins Ranchhaus kam, waren Boyd und Si mon möglicherweise schon unterwegs und sie würde Simon wieder den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.
Aber Julia hatte sich unnötig Sorgen gemacht. Simon saß in der Küche und fütterte Tommy. Ada telefonierte. Das Protestwochen ende rückte heran und sie wollte nach Eldora Valley ins Büro fahren, um Verschiedenes mit Veola zu besprechen. Es mussten Flyer gefal tet, E-Mails beantwortet und Telefonate geführt werden. Julia sollte helfen.
Die Aussicht, Veola zu begegnen und sich in ihrem Haus aufhalten zu müssen, behagte ihr wenig. Aber da auch Simon mitfahren wür de – er sollte den geschweißten Greifer der Erntemaschine aus Franks Werkstatt abholen – , widersprach sie ihrer Großmutter nicht.
Insgeheim hoffte Julia, dass Jason zu Hause war. Vielleicht ergab sich die Möglichkeit, ihn unter vier Augen zu sprechen und ihm ein paar Fragen zu stellen.
Vor einem graublauen Fertig-Holzhaus mit Veranda setzte Simon sie ab. Julia gab ihm einen Kuss, bevor sie ausstieg, und er wurde rot, weil Ada es gesehen hatte. Dann fuhr er weiter zu Franks Reparaturwerkstatt.
Als Julia auf Veolas Veranda trat, bemerkte sie, dass das Haus ein paar Reparaturen und vor allem einen neuen Anstrich dringend nö tig hatte. Die Farbe war abgeblättert und das blanke Holz kam da runter zum Vorschein.
Sie betraten einen dunklen Raum, der gleichzeitig Küche und Wohnzimmer war. Im Spülbecken stapelte sich das Geschirr.
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