Die verbotene Geschichte: Roman (German Edition)
Declan Partik, Rabaul,
an Phebe Parkinson, datiert auf den 7. April 1907,
Phebe-Parkinson-Archiv, Archivnummer 035
Sehr verehrte Frau Parkinson,
ich bin noch immer in Sorge über den gesundheitlichen Zustand Ihres Sohnes Bibi, obwohl ich einige Hoffnungen hege, was seine Unfähigkeit zu sprechen anbelangt. Vereinzelt gibt es Anzeichen, dass er der Behinderung in den kommenden Jahren entwachsen wird. Eine Garantie dafür kann ich Ihnen leider nicht geben.
Aus seinen Zeichnungen, so brutal sie auch erscheinen mögen, wird deutlich, dass er den Wunsch nach Verständigung hat. Er ist intelligent und geistig wach. Dennoch wird er weiterhin ärztlicher Behandlung bedürfen, zumindest bis er die Sprache zurückgewonnen hat.
Ich habe bei meinen Untersuchungen festgestellt, dass Bibi seinen Geschwistern nicht nahezustehen scheint, dennoch glaube ich, dass er zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung bei Ihnen gut aufgehoben ist.
Leider scheint der Tod Ihres Gatten Bibis Verfassung verschlechtert zu haben. In welcher Weise, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau abzusehen. Ich bin allerdings überzeugt, dass sein letzter Gewaltausbruch, von dem Sie mir berichtet hatten, in direkter Verbindung zu seiner Trauer und einem Gefühl von Verlassenheit steht, das er seit dem Tod seines Vaters empfindet.
Ich will Ihnen kurz seine Prognose schildern. Die Gewalt gegen Tiere, von der Sie mehrfach berichtet haben, wird sich wahrscheinlich im Laufe der Zeit etwas abmildern. Bibi zeigt Anzeichen von Hysterie, und sein grausames Verhalten ist Ausdruck dieser Störung. Es ist jedoch zu hoffen, dass sich dieser Zustand mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter bessert.
Ich empfehle, ihm jeden Tag frisches Obst mit Kokosmilch zu verabreichen. Bibi sollte sich viel im Freien aufhalten, er bedarf des Sonnenscheins. Falls die Behandlung in absehbarer Zeit nicht anschlägt, empfehle ich Ihnen, weiteren ärztlichen Rat einzuholen.
Ich kenne einen Spezialisten, den ich Ihnen empfehlen möchte, allerdings nicht in Deutsch-Neuguinea. Es handelt sich um Dr. Westley in Sydney, dessen spezielles Interesse ungewöhnlichen Gemütsstörungen gilt. Ihr Einverständnis vorausgesetzt, würde ich mit ihm Bibis Fall besprechen, sobald ich kommenden Monat nach Australien reise.
Hochachtungsvoll,
Dr. Declan Partik
Mount Isa, 2010
K atja war in aller Frühe aufgebrochen, um nach Cairns zu fliegen, das auf halbem Weg zu ihrem Reiseziel im australischen Outback lag. Sie hatte sich endlich einen Ruck gegeben. Wenn sie einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen wollte, musste sie nach Tasmanien. Sie war es Michael schuldig. Und als Nebeneffekt wäre sie dann nicht mehr in Papua, wenn ihr Vater von der Mine zurückkam.
Aber noch etwas anderes trieb sie zu dieser Reise. Seit diese irgendwie unheimliche Maile davon gesprochen hatte, ihre Familie sei verflucht, hatte Katjas Wunsch, mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren, eine gewisse Dringlichkeit angenommen. Und in Australien bot sich ihr die einmalige Chance, nach den Wurzeln ihrer Familie zu graben, ohne dass ihr Vater oder Großvater sie daran hätten hindern können.
Einige Tage nachdem sie mit Takari bei Maile gewesen war, konnte sie noch immer kaum glauben, wie gut es mit ihren Nachforschungen in Australien bislang gelaufen war. Dabei hatte sie als Ausgangspunkt nur über die Adresse jener Johanna verfügt, der Absenderin der Briefe aus Kuradui. Auf gut Glück googelte sie diese Information und wurde auf Anhieb fündig. Die Adresse existierte noch, auf Google Earth fand sie sogar ein Foto des betreffenden Farmhauses. Falls, wie Katja hoffte, die gegenwärtigen Bewohner oder Besitzer der Farm Nachkommen oder Verwandte von Johanna waren, wollte sie unbedingt mit ihnen reden. Möglicherweise wussten sie etwas, das Katja bei ihrer Recherche weiterhalf.
Sie schickte einen Eilbrief an die Adresse in Mt. Isa, den sie mit Dear Mr. and Mrs. überschrieb und ein Fragezeichen dahintersetzte. Sie schilderte ihr Anliegen möglichst knapp und präzise, bemüht, nicht wie ein Stalker oder ein afrikanischer Brief-Scam zu klingen. Neben ihrer Anschrift und Telefonnummer hatte sie ihre E-Mail-Adresse beigefügt.
Sie könne damit rechnen, dass der Brief bereits am übernächsten Tag zugestellt würde, sicherte ihr die Frau auf der Poststelle zu. Katja hoffte, innerhalb von fünf Tagen Antwort zu bekommen. Mehr Zeit hatte sie nicht, wenn sie ihren Arbeitsbeginn im St. Mary’s nicht noch weiter aufschieben wollte.
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