Die Verbrechen von Frankfurt. Totenreich
nach den Inneren ungetaufter Säuglinge. Sie wollen das Blut von Toten, sie trinken es so gierig, dass es ihnen förmlich vom Kinn tropft. Vor nichts haben sie Respekt. Nichts ist ihnen heilig. Das ist es, was sie von mir wollen. Damit verdiene ich meinen Lebensunterhalt. Mit der Gier und der Grausamkeit der anständigen Leute. Mit ihrer Wollust, ihrer Hoffart, ihrer Habsucht, ihrem Neid auf die Nachbarin. Ich selbst bin ihnen vollkommen gleichgültig.»
«Ich verstehe», erwiderte die Geldwechslerin Jutta Hinterer. Und sie verstand tatsächlich. Sie hatte zwar nur eine Bude auf dem Markt, doch sie hatte tagtäglich die Verlogenheit und Gier der Menschen vor Augen. Wie oft kamen Frauen zu ihr, die einem heimlichen Gewerbe nachgingen, wenn ihre Männer als Gesellen in fremden Werkstätten schufteten. Mit verstohlenen Blicken tauschten sie fremde Währung um und gaben Jutta jedes Mal ein viel zu hohes Trinkgeld. Schweigegeld war das, Jutta machte sich da nichts vor. Und am Sonntag in der Kirche, da kannten sie die Geldwechslerin nicht mehr. Die Stadt war voller Lug und Trug, voller Heimlichkeiten und Intrigen, voller Gier und Eifersucht und Neid.
«Ich verstehe, dass du ihn nie gefragt hast», erwiderte Jutta.
Minerva wischte sich die Tränen aus den Augen. «Er ist taubstumm», sagte sie leise. «Er spricht nicht. Noch nie habe ich ein Wort aus seinem Mund vernommen. Aber selbst wenn er sprechen könnte, hätte ich es nicht wissen wollen.»
Wieder nickte Jutta. «Was bringt er dir noch? Frisches Menschenblut?»
Minerva schüttelte den Kopf. «Nein, ich kann den Geruch nicht ertragen. Es fällt mir schon schwer, das bisschen Leichenfleisch zu riechen. Er bringt mir nur das Jungfrauenblut. Alles andere finde ich in den Wäldern und Feldern. Und den Rest bekomme ich von der Henkerin.»
«Wie heißt er, der Gehilfe? Und wo finde ich ihn?»
Minerva zuckte die Achseln. «Ich habe keine Ahnung. Er wird von allen nur ‹der Stumme› genannt. Selbst mein Vater weiß nicht, wo er wohnt. Es interessiert ihn auch nicht. Er sagt ihm nur, wann er ihn braucht, und dann ist er da.»
«Und dein Vater, wo wohnt er?»
Minerva flüsterte wieder. «Im Dörfchen Seckbach. In dem Haus, welches dem Galgen am nächsten ist. Aber glaub mir, mein Vater tut nichts Unrechtes. Er forscht nur. Mein Bruder, er ist an der Franzosenkrankheit gestorben. Und mein Vater hat den Verlust nie verschmerzt. Nichts kümmert ihn mehr als seine Arbeit. Selbst ich bin ihm gleichgültig.»
Richter Blettner brannte darauf, ins Pfarrhaus zu kommen. Er hatte den Weber beim Verhör gehabt, und der hatte gestanden, die Findelkinder zur Arbeit gezwungen zu haben. Nun konnte auch Vater Raphael nicht länger schweigen. Also saßen die beiden Männer im Verlies, dazu Vater Raphaels Frau, und warteten auf das Urteil, welches der Rat über ihr Vergehen fällen würde. Richter Blettner vermutete, dass der Weber aus der Zunft ausgeschlossen würde und die Stadt würde verlassen müssen. Vater Raphael und seine Frau würden wahrscheinlich nach einer Leibstrafe, die sich in Peitschenhieben oder im Brennen durch die Wange ausdrücken würde, ebenfalls der Stadt verwiesen.
Am stolzesten aber war Richter Blettner darauf, dass er Gustelies’ Rat befolgt und zu Klärchen Gaube gegangen war. Die Witwe hatte ihm vor Freude die Hände geküsst. «Nichts würde ich lieber tun, als mich um die armen Kinder zu kümmern», hatte sie behauptet, und Richter Blettner hatte ihr geglaubt. Er hatte zwei Büttel und einen Wagen zum Haus der guten Haut geschickt, und schon wenige Stunden später war Klärchen Gaube mit ihrem Hab und Gut nach Sachsenhausen gezogen. Auch Pfarrer Küttler atmete auf, denn er und seine Frau waren es gewesen, die sich seit Vater Raphaels Verhaftung um die armen Waisen gekümmert hatten.
Insgeheim bewunderte der Richter seine Schwiegermutter für ihren berechnenden Scharfsinn. Er hatte sich noch nie auf eine so elegante Weise eines Konkurrenten entledigt. Denn eines stand fest: Den nächsten Kuchenwettbewerb würde Gustelies todsicher für sich entscheiden.
Natürlich musste nun noch ein Mann gefunden werden, der dem Findelhaus vorstand. Das war schließlich eine Aufgabe, für die Frauen schlichtweg nicht gemacht waren, aber er hatte Bruder Göck einstweilen beauftragt, unter seinen Mitbrüdern einen geeigneten Mann zu finden. Damit war das Findelhaus wieder katholisch, so wie es sich von alters her gehörte. Krafft von Elckershausen hatte sich
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