Die vergessene Frau
zahllose Fragen auf der Seele, die sie Niamh stellen wollte, allerdings ahnte sie schon, dass das keine gute Idee war. Stattdessen ließ sie sich noch einmal die Ereignisse dieses Tages durch den Kopf gehen.
Bevor Cara an jenem Abend einschlief, analysierte sie kurz ihre Position im St. Mary’s. So wie sie es sah, hatte sie bis jetzt eine echte Freundin gefunden und sich eine mächtige Feindin gemacht. Sie hoffte nur, dass Erstere stark genug war, um ihr gegen Letztere beizustehen.
Damals wurde kein großer Wert auf korrekte Aktenführung gelegt. Darum verwunderte es nicht, dass Miss Lynch, die sich überarbeitet und unterbezahlt fühlte, in ihrer Eile, nach Hause zu kommen, die Unterlagen über das in Theresa Healeys Haus gefundene Kind verlegte, was wiederum zur Folge hatte, dass Cara offiziell spurlos verschwand. Als einige Wochen später ein Mann auftauchte, der nach dem Mädchen suchte, blieb ihm darum nichts anderes übrig, als jedes Waisenhaus einzeln aufzusuchen. Trotzdem hätte er es finden können, wenn er bei seinem Besuch im St. Mary’s nicht ausgerechnet an Schwester Concepta geraten wäre, die aus Trotz oder purer Bosheit behauptete, kein Kind namens Cara Healey unter ihren Schutzbefohlenen zu haben.
Kapitel 31
1961
Schwester Jude holte mit dem Besen aus. »Es gibt keine schlimmere Sünde als die Faulheit!«
Cara machte sich auf den unausweichlichen Hieb gefasst. Der Besen traf genau auf ihre Waden, sodass die scharfen Zweige ihre Haut zerkratzten. Sie biss sich auf die Lippe, bis der metallische Geschmack von Blut ihren Mund erfüllte. Alles nur, damit die Nonne sie nicht weinen sah.
Natürlich hatte sie die Bestrafung selbst verschuldet, weil sie den Küchenboden zu langsam geschrubbt hatte. Aber ihr hatten die Knie so weh getan, dass sie kurz aufstehen und ihre Beine durchstrecken musste. Molly hatte ihr noch eine Warnung zugezischt, dass Schwester Jude im Anmarsch war, doch da war es schon um sie geschehen.
»Du verdorbenes, faules Stück!« Wieder ließ Schwester Jude den Besen herabsausen. »Müßiggang ist Teufelswerk!«
Diesmal schickte der Schlag Cara mit dem Gesicht voran auf den Steinboden. Sie landete auf ihrem Bauch und wand sich in Schmerzen.
»Lass dir das eine Lehre sein.«
Zufrieden mit ihrem Werk warf Schwester Jude den Besen auf den Boden und machte sich auf den Weg nach draußen. An der Tür blieb sie kurz stehen und drehte sich um. Zu spät erkannte Cara, was sie im Schilde führte, und so musste sie hilflos zusehen, wie die Nonne gegen den Eimer trat. Ehe sie sich zur Seite rollen konnte, spritzte das schmutzige Wasser auf ihre Beine, dass die Bleiche in den Wunden brannte. Trotz ihres Schwures, keine Reaktion zu zeigen, stöhnte sie unwillkürlich vor Schmerz auf.
Nachdem die Nonne endlich verschwunden war, rappelte sich Cara mühsam wieder auf. Sie sah auf den Boden und hätte am liebsten geheult. Sie würde ganz von vorn anfangen müssen.
Es war Mai 1961, und Cara war gerade vierzehn geworden. Seit gut einem Jahr war sie inzwischen im Waisenhaus, auch wenn ihr die Zeit viel länger vorkam. Durch die ewig gleiche mühselige Routine schienen sich die Tage und Wochen ewig hinzuziehen. Unter der Woche mussten die Mädchen um sechs Uhr aufstehen. Nach einer kalten Dusche wurden um sieben Uhr Brot und Tee zum Frühstück ausgegeben, dann folgte der Unterricht mit einer Pause zum Mittagessen. Nach Unterrichtsende um vier Uhr nachmittags wurde gearbeitet, ebenso wie nach dem Abendessen. Die Religion spielte eine große Rolle. Am Freitagnachmittag kam der Priester aus der Nachbargemeinde, um ihnen die Beichte abzunehmen; vor jedem Essen und vor dem Zubettgehen wurde gebetet.
Am angenehmsten waren noch die Samstage. Nachdem morgens alle Arbeiten getan waren, wurden die Mädchen meistens in den Ort gefahren und durften dort ins Kino gehen. Aber danach kam der Sonntag: die stundenlange katholische Messe am Morgen, gefolgt von einem endlosen Tag voller Gebete und Andachten.
Doch nicht nur die Gebete, sondern auch die Schläge bildeten einen festen Bestandteil in Caras Leben. Ohne dass sie gewusst hätte warum, hasste Schwester Concepta sie unerbittlich und nutzte jede Gelegenheit, um ihr das Leben schwer zu machen. Als sie herausgefunden hatte, dass Cara in der Näherei arbeitete, hatte sie das Kind sofort zum Bodenputzen, der schlimmsten Arbeit, abgestellt. Cara fand das Schrubben schrecklich. Ihre Hände waren immer gerötet und brannten unter der Bleiche; die
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