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Die vergessene Insel

Die vergessene Insel

Titel: Die vergessene Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Stimme. »Laß mich nur
noch ein wenig Kraft sammeln. Außerdem ist der Sonnenuntergang so prächtig.«
Das war allerdings nicht der ganze Grund, aus dem
Mike zögerte. Was er durch das Fernrohr gesehen hatte, hatte ihn doch mehr erschreckt, als er zugeben
wollte. Fast ohne sein Zutun ging sein Blick wieder
nach Süden und irrte über den Horizont. Wahrscheinlich würden noch Stunden vergehen, bis das Schiff nahe genug herangekommen war, um es mit bloßem Auge zu entdecken. Aber er wußte, daß es da war, und
dieses Wissen allein bereitete ihm Unbehagen.
»Wonach hältst du Ausschau?« fragte Paul. Er kniff
die Augen zusammen und blickte konzentriert in die
gleiche Richtung wie er, und für einen Moment war
Mike fast sicher, daß er das Schiff seines Vaters sah.
Oder wußte, daß es da war.
Der Gedanke gab Mike einen scharfen Stichund
ließ ihn zugleich sein schlechtes
Gewissen wieder
spüren. Er vertraute Paul; sosehr, daß er ihm ohne
zu zögern sein Leben anvertraut hätte. Und doch ...
ein winziges Mißtrauen war da, wie ein Stachel, der
sich in seine Haut gebohrt hatte und den er einfach
nicht herausbekam, so sehr er es auch
versuchte.
Mike schämte sich dieses Gefühls, aber er wurde es einfach nicht los.
»Nein«, antwortete er hastig. »Ich sehe mir wirklich
den Sonnenuntergang an, das ist alles.« Paul sah ihm
zweifelnd in die Augen, und Mike fügte etwas
leiser
hinzu: »Außerdem wollte ich mit Singh sprechen, was
mir aber wieder mal nicht gelungen ist. Ich habe noch
nie jemanden gekannt, der so stur sein kann wie er.
Und ein solches Geschick hat, direkten Fragen auszuweichen.«
    »Stimmt«, sagte Paul. »Sogar solchen, die man noch
gar nicht gestellt hat.«
Sie lachten beide. Es war ein sehr entspanntes, befreiendes Lachen, und vielleicht war es auch der Grund,
aus dem Mike plötzlich den Mut aufbrachte, Paul die
Frage zu stellen, die ihm seit drei Tagen auf der Seele
brannte:
»Sag mal - tut es dir überhaupt nicht leid, daß du
jetzt bei uns bist, statt bei deinem Vater?«
»Du traust mir auch nicht, wie?« antwortete Paul leise. Mikes Frage schien ihn sehr getroffen zu haben.
»Unsinn!« erwiderte Mike. »Ich versuche nur, mir
vorzustellen, wie es sein muß ... immerhin ist er dein
Vater, und -«
»Und du bist mein Freund!« fiel ihm Paul ins Wort, so
unerwartet heftig, daß Mike ihn überrascht ansah.
Paul schwieg eine Sekunde, biß sich auf die Unterlippe und fuhr dann leiser fort: »Ach zum Teufel! Ich
weiß allmählich selbst nicht mehr, was ich glauben
soll! Wenn ich an eurer Stelle wäre, dann würde ich
mir wahrscheinlich auch nicht trauen. Wenn du mir
die Geschichte vor vier Tagen erzählt hättest, hätte
ich dich einfach ausgelacht. Mein Vater als Entführer
und Attentäter?« Er schüttelte den Kopf.
»Was immer auf dieser Insel ist, muß unvorstellbar
wertvoll sein, daß er sich so weit hinreißen läßt. Hast
du denn wirklich keine Ahnung, was es sein kann?«
Mike verneinte. »Wie war das?« sagte er mit einem gequälten Lächeln. »Wenn du mir die Geschichte vor
vier Tagen erzählt hättest, hätte ich dich einfach ausgelacht?«
Sie lachten wieder, aber viel leiser als vorhin, und es
klang ein wenig unecht. Mike verfluchte sich in Gedanken dafür, diese ganz und gar überflüssige Frage
überhaupt gestellt zu haben. Wenn diese Geschichte
    vorbei war, dachte er, dann würde es wohl eine Menge geben, wofür er sich bei Paul entschuldigen mußte.
Mike drehte sich zur Reling und blickte wieder auf
die See hinaus, diesmal aber ganz bewußt nicht in
Richtung der noch unsichtbaren, aber näher kommenden LEOPOLD. Und vielleicht zum ersten Mal, seit
dieses Abenteuer begonnen hatte, begann er zu begreifen, daß sich nicht nur die äußeren Umstände seines
Lebens verändert hatten. Selbst wenn alles doch noch
ein gutes Ende nahm - Mike würde nie mehr derselbe
sein wie vorher. Ganz plötzlich wußte er, daß er nie
wieder nach Andara-House zurückkehren würde, ganz
gleich, wie diese Reise auch endete, ja vielleicht nicht
einmal mehr nach England.
Der Gedanke erfüllte ihn mit einer sonderbaren Wehmut. An jenem Morgen in London, als sie das Boot bestiegen und zu der verhängnisvollen Fahrt aufgebrochen waren, war ein Abschnitt seines Lebens zu Ende
gegangen, den er nie wieder zurückholen konnte. Was
nun vor ihm lag, das war vielleicht aufregend, vielleicht gefährlich, vielleicht sogar besser als die Jahre
vorher - aber es war auf jeden Fall unbekannt, und
aus diesem Grund machte es ihm

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