Die vergessene Insel
angst.
Dieses Gefühl mußte deutlich auf seinem Gesicht zu
sehen sein, denn Paul legte ihm plötzlich die Hand auf
die Schulter und sagte in mitfühlendem Tonfall: »Es
wird schon nicht so schlimm werden. Weißt du, ich
habe trotz allem ein gutes Gefühl bei der Geschichte.
Es gibt Tausende von kleinen Inseln in dieser Gegend.
Wahrscheinlich schippern wir noch eine Weile durch
die Gegend, und irgendwann gibt mein Vater auf.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Mike. »So schnell gibt
dein Vater nicht auf. Er hat zu viel riskiert, um jetzt
die Flinte ins Korn zu werfen. Und er ist seinem Ziel
ja schon ziemlich nahe.«
»Falls es dieses Ziel wirklich gibt, ja«, sagte Paul.
»Wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage«, antwortete Paul. »Weißt du, ich
habe nichts gesagt, als die anderen dabei waren, aber
ein bißchen verrückt kam mir die Geschichte schon
vor, die dein schwarzäugiger Schutzengel da erzählt
hat. Eine Insel, die von Zauberei geschützt wird! Etwas, was so kostbar ist, daß er es nicht einmal dir
verraten darf, worum es sich handelt, obwohl es dir
gehört. Irgendwie klingt das alles nach einer Abenteuergeschichte, die sich jemand ausgedacht hat, findest
du nicht?« Er lachte. »Am Ende wird er noch behaupten, daß diese Göttin selbst sie beschützt, von der er
immer spricht... wie hieß sie doch gleich?«
Mike starrte ihn an. »Kali«, flüsterte er. Und dann
fügte er mit leiser Stimme hinzu: »Das hat er gesagt,
Paul. Mein Gott, ganz genau das hat er gesagt!«
»Ich weiß«, sagte Paul. »Und?«
»Ja, verstehst du denn nicht?« Plötzlich schrie Mike
fast. »Es heißt, daß Kali selbst über ihr Geheimnis
wacht! Und das hier ist Kali!« Er zerrte den Anhänger
unter dem Hemd hervor.
Pauls Unterkiefer klappte vor Staunen herab, als er
begriff. Er starrte das goldene Abbild der Göttin Kali
an. »Du meinst -«
»Ich meine«, unterbrach ihn Mike aufgeregt, »daß wir
alle blind gewesen sind. Ich hatte das Ding die ganze
Zeit bei mir, und Singh hat es sogar gesagt!«
»Aber was soll es uns helfen?« fragte Paul. »Wir haben es doch schon so oft untersucht.«
Das stimmte. Aber Mike wußte, daß er auf der richtigen Spur war. »Schnell«, sagte er aufgeregt. »Gehen
wir zu Singh.«
Sie fanden den Sikh in der Messe, wo er Miß McCrooder dabei zur Hand ging, das
Geschirr aufzutragen.
Singh war ein unermüdlicher Arbeiter. Wenn er nicht
mit den Segeln hantierte, das Ruder bediente oder
über seinen Seekarten brütete, machte er sich auf
hundert andere Arten nützlich und half Miß McCrooder sogar beim Kochen.
»Singh!« rief Mike aufgeregt, ohne auf die fragenden
Blicke der anderen Jungen zu achten, die überrascht
in ihren Gesprächen innehielten, als Paul und er hereingepoltert kamen. »Ich glaube, ich weiß es jetzt!«
sagte er atemlos. »Hier! Es heißt, Kali selbst wacht
über das Geheimnis, erinnerst du dich?«
Er streifte die Kette ab und gab Singh den Anhänger.
Der Sikh nahm ihn entgegen, legte ihn auf seine ausgestreckte Handfläche und betrachtete ihn ehrfürchtig. »Kali!« flüsterte er.
»Mein Vater hat es mir
hinterlassen«,
antwortete
Mike. »Es ist das einzige, was ich überhaupt von ihm habe.«
Zum ersten Mal, seit Mike den Inder kennengelernt
hatte, war Singh aufgeregt. »Kali«, murmelte er noch
einmal. Dann sah er mit einem Ruck auf. »Die Karte«,
sagte er. »Ihr habt mir erzählt, daß bei den Papieren
Eures Vaters auch eine Seekarte war - erinnert Ihr
Euch?«
»Ja, warum?«
»Glaubt Ihr, daß Ihr sie wiedererkennt?« fragte Singh.
Mike nickte zögernd. Er verstand überhaupt nichts
vom Kartenlesen, aber schließlich hatte Winterfeld
ihm recht genau erklärt, was darauf zu sehen war.
»Ich glaube schon - aber wieso?«
Singh schloß die Hand schützend um das Amulett. »Wir
brauchen den Tisch«, sagte er dann. »Schnell!«
Natürlich ließen sich die Jungen das nicht zweimal
sagen. Unter beifälligen Bemerkungen verschwanden
Teller und Besteck in Windeseile. »Aber ... aber das
Essen!« protestierte Miß McCrooder. »Was ist denn
mit dem Essen? Ich habe mir solche Mühe gegeben!«
Niemand schenkte ihr Beachtung. Nach kaum einer
Minute war der große Tisch frei, und Singh schleppte
einen ganzen Arm voll zusammengerollter Seekarten
an, die er darauf ablud und eine nach der anderen
glattzustreichen begann.
Mikes Mut sank, als er das Durcheinander von Linien, Zahlen, Markierungen, Längen- und Breitengraden
sah. Obwohl er noch immer davon überzeugt war,
daß des Rätsels Lösung
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