Die Vergessene Welt
merkwürdige Schal, breitete sich aus und entpuppte
sich als ein Paar flatternder, lederartiger Flügel. Challenger
griff nach den Beinen der scheußlichen Kreatur, erwischte sie
jedoch nicht mehr. Das Untier hatte sich von der Kiste
abgestoßen und flatterte in großen Kreisen in der Queens Hall
herum, mit trockenem, ledernem Klappen seiner zehn Fuß
spannenden Flügel. Ein fauliger, ekelhafter Geruch breitete
sich im Raum aus.
Die Angstschreie der Leute auf der Galerie, die durch die
bedrohliche Nähe dieser glühenden Augen und des
mörderischen Schnabels erschreckt waren, reizten das
Scheusal noch mehr. Schneller und schneller flog es und
schlug in blinder Wut gegen Wände und Leuchter.
»Das Fenster! Um Himmels willen, macht das Fenster zu!«
brüllte der Professor vom Podium, wo er umhertanzte und die
Hände rang. Ach, seine Warnung kam zu spät! In der
nächsten Sekunde hatte die Kreatur, die wie eine riesige
Motte in einem Lampenschirm immer wieder gegen die Wände
stieß, die Öffnung erreicht, ihren gräßlichen Körper
hindurchgezwängt – und war fort.
Professor Challenger sank auf seinen Stuhl zurück und
schlug die Hände vors Gesicht, während aus dem Publikum
ein langer, tiefer Seufzer der Erleichterung aufstieg.
Wie soll man in Worten beschreiben, was sich dann
abspielte – wie der ganze Überschwang der Mehrheit und die
Reaktion der Minderheit sich zu einer einzigen großen Woge
der Begeisterung vereinigten, die vom Hintergrund des Saales
nach vorn rollte, stetig an Volumen zunahm, über das
Orchester schlug, das Podium überflutete und die vier Helden
auf ihrem Kamm davontrug? Hatte das Publikum den
Forschern bisher keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, so
machte es jetzt alles im Übermaß wieder wett. Alles war auf
den Beinen. Alles lief, schrie und gestikulierte
durcheinander. Eine dichte Menge jubelnder Männer umgab
die vier Reisenden.
»Hoch! Hoch mit ihnen!« schrien Hunderte von Stimmen.
Augenblicklich erschienen die vier Gestalten über den Köpfen
der Menge. Vergeblich suchten sie sich zu befreien. Sie wurden
auf ihrem luftigen Ehrenplatz festgehalten. Selbst wenn man
gewollt hätte, wäre es kaum noch möglich gewesen, sie
herunterzulassen, so dicht war das Gedränge.
»Regent Street! Regent Street!« schrien die Stimmen.
In die Menge kam Bewegung, und der Menschenstrom
bewegte sich auf den Ausgang zu, die vier auf den Schultern.
Draußen auf der Straße gab es eine außergewöhnliche Szene.
Dort wartete eine unüberschaubare Menschenmenge. Sie
reichte vom Oxford Circus bis über das Langham Hotel hinaus.
Als die vier Abenteurer hoch über den Köpfen der Massen
unter den hellen Bogenlampen vor der Halle erschienen,
wurden sie von einem Begeisterungssturm begrüßt.
»Ein Triumphzug! Ein Triumphzug!« schrie alles. Schulter
an Schulter setzte sich die Menge in Bewegung durch Regent
Street, Fall Mall, St. James Street und Piccadilly. Der gesamte
Verkehr in der City kam zum Erliegen, und zahlreiche
Zusammenstöße mit Polizisten und Droschkenkutschern
wurden gemeldet. Erst nach Mitternacht wurden die Reisenden
schließlich vor dem Eingang zu Lord John Roxtons Wohnung
im Albany freigelassen. Und die begeisterte Menschenmenge
sang »They are jolly good Fellows« und sozusagen als
Schlußpunkt der Veranstaltung »God save the King«.
§
Soweit also mein Freund Macdona. Ein zuverlässiger, wenn
auch blumenreicher Bericht über die Vorgänge. Was das
Hauptereignis betrifft, so war es wohl für das Publikum eine
Überraschung, nicht aber für uns. Der Leser wird sich erinnern,
wie ich Lord John begegnete, als er sich in seiner
Schutzkrinoline aus Zweigen aufgemacht hatte, um für
Professor Challenger das ›Teufelsküken‹ zu besorgen. Ich habe
ebenfalls die Schwierigkeiten angedeutet, die wir mit dem
Gepäck des Professors hatten, als wir das Plateau verließen. Bei
näherer Beschreibung unserer Rückreise hätte ich auch noch
eine Menge über die Plage zu berichten, die wir mit dem Appetit
unseres unsauberen Gefährten hatten, den wir nur mit
verfaulten Fischen füttern konnten. Wenn ich bisher nichts
darüber gesagt habe, so geschah dies natürlich auf
ausdrücklichen Wunsch des Professors hin. Er wollte nicht, daß
auch nur das leiseste Gerücht über das unwiderlegbare
Argument, das wir mit uns führten, durchsickerte, bevor der
geeignete Augenblick gekommen war.
Ein Wort noch zum Schicksal des Londoner
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