Die Vergessene Welt
Tagesanbruch durch
einen heftigen Juckreiz aus kurzem Schlaf gerissen wurde,
bemerkte ich etwas Seltsames an meinem linken Bein. Meine
Hose war in die Höhe gerutscht, zwischen Aufschlag und
Socken war eine Handbreit Haut entblößt, und genau da saß
etwas, was wie eine dicke rote Traube aussah.
Erstaunt beugte ich mich nach vorn und wollte sie mir vom
Bein streichen, als sie auch schon platzte und Blut in alle
Richtungen verspritzte. Angewidert schrie ich auf und lockte
damit die beiden Professoren herbei.
»Höchst interessant«, sagte Summerlee, über mein Bein
gebeugt. »Eine blutsaugende Riesenzecke, meines Wissens
bisher noch nicht erfaßt.«
»Die ersten Früchte unserer Anstrengungen«, sagte
Challenger zufrieden. »Ixodes Maloni taufen wir sie – das ist
das mindeste, was wir tun können. Leider haben Sie das
prachtvolle Exemplar zerquetscht, junger Freund. Die kleine
Unannehmlichkeit, gebissen worden zu sein, wird Ihnen
sicherlich nichts ausmachen, wenn Sie an das unschätzbare
Privileg denken, dafür Ihren Namen in den unvergänglichen
Annalen der Zoologie verewigt zu sehen.«
»Vielen Dank für die Ehre«, sagte ich gereizt. Mir war
wirklich nicht zum Lachen zumute.
Professor Challenger zog erstaunt eine Augenbraue in die
Höhe und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»Sie sollten danach streben, junger Mann«, sagte er, »Ihr
Auge und Ihr Denken in den Dienst der Wissenschaft zu stellen.
Für einen Mann wie mich – und ich rühme mich, ein
Naturphilosoph zu sein – ist die Zecke mit ihrem
lanzettenförmigen Rüssel und ihrem aufgeblähten Bauch ein
ebenso prachtvolles Kunstwerk der Natur wie der stolze Pfau
oder die Aurora borealis. Sie scheinen sich dessen nicht
bewußt zu sein, und das finde ich äußerst bedauerlich. Wenn
wir genügend Ausdauer aufbringen, werden wir sicher ein
zweites Exemplar finden und es dann aufbewahren.«
»Zweifellos«, bemerkte Professor Summerlee trocken.
»Eben ist nämlich das zweite Exemplar in Ihrem Hemdkragen
verschwunden, werter Herr Kollege.«
Professor Challenger gebärdete sich wie ein wütender Bulle,
schrie und hüpfte auf und ab und zerrte an seinem Jackett und
seinem Hemd zugleich. Summerlee und ich mußten derart
lachen, daß wir unfähig waren, ihm zu helfen. Er schaffte es
aber auch allein, und endlich war der massige Oberkörper
nackt. Aus dem Gewirr von schwarzen Haaren, die an Brust
und Schultern wuchsen, befreiten wir die verzweifelt
herumirrende Zecke, ehe sie ihr Opfer hatte anzapfen können.
– In den Büschen rings um uns herum wimmelte es von diesem
Ungeziefer, und so waren wir gezwungen, uns einen anderen
Lagerplatz zu suchen.
Erst jedoch mußten wir mit unserem treuen Neger sprechen,
der eben wieder auf der Felszinne aufgetaucht war und uns
Büchsen mit Kakao und Keksen mitgebracht hatte. Nachdem
er sie uns eine nach der anderen zugeworfen hatte, sagten wir
ihm, daß er Verpflegung für zwei Monate zurückbehalten und
den Rest den Indianern als Lohn für ihre Arbeit und dafür, daß
sie die Briefe mitnahmen, geben sollte.
Einige Stunden später sahen wir die Indianer im
Gänsemarsch über die Ebene wandern, jeder ein Bündel auf
dem Kopf. Sie gingen auf dem Weg zurück, den wir gekommen
waren. Zambo bezog unser Zelt am Fuße der Felszinne, und
dort blieb er – unser einziges Bindeglied zu der Welt unter
uns.
Und
nun
verlegten
wir
unser
Lager
von
den
zeckenverseuchten Büschen in eine kleine Lichtung, die ringsum
von Bäumen umgeben war. In der Mitte der Lichtung ein paar
flache Felsplatten und gleich daneben eine Quelle. Dort saßen
wir, sauber und bequem, und besprachen unseren ersten
Vormarsch in dieses neue Land. Vögel zwitscherten in den
Bäumen, manche davon mit seltsam heulendem Unterton,
aber sonst war alles still.
Als erstes stellten wir eine Liste unserer Vorräte auf, denn
wir mußten wissen, wie lange wir damit durchhalten konnten.
Insgesamt waren wir mit den Sachen, die wir selbst mitgebracht
hatten, und denen, die uns Zambo nachgeliefert hatte, relativ
gut versorgt.
Bei den Gefahren, von denen wir umzingelt sein mochten,
waren
jedoch
unsere
Gewehre
die
wichtigsten
Ausrüstungsgegenstände. Jeder von uns hatte dreihundert Schuß
Munition, außerdem hatten wir noch die Schrotflinte mit
hundertfünfzig Patronen. Der Proviant reichte für gut drei
Wochen, Tabak besaßen wir ausreichend, und sogar einige
Geräte für
Weitere Kostenlose Bücher