Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
ihnen habe ich schon gesprochen, was mich in meiner Angelegenheit allerdings nicht viel weitergebracht hat. Und Ihre Geschichte, zumindest das, was ich bis jetzt davon gehört habe, hat mich sehr erstaunt.«
»Ja«, sagt Alberto. »Sie haben recht. Meine Lebensgeschichte ist sehr speziell.«
»Vielleicht können Sie sie noch mal von Anfang an erzählen«, wirft Eva ein. »Dann sind wir alle auf demselben Stand.«
Alberto beginnt zu berichten. Er erzählt von seiner behüteten Kindheit in Mannheim, wie er als Kind einer wohlhabenden deutschen Familie aufwuchs, über seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend, über seine kaufmännische Ausbildung bei der Firma Lanz und über seine ersten Hochzeitspläne.
»Ich fiel aus allen Wolken, als man mir auf dem Amt erklärte, ich sei Jude, das können Sie mir glauben. Sie wissen, was die Deutschen damals von den Juden hielten und was sie mit ihnen gemacht haben. Ich wurde umgehend von der Gestapo vorgeladen und auf die nächste Deportationsliste gesetzt.«
»Was war das für ein Gefühl, als Ihr Leben von einem Moment auf den anderen auf den Kopf gestellt wurde?«, will Eva wissen.
»Ich kann es nicht sagen, ich weiß es wirklich nicht. Alles ging so schnell, dass ich zunächst überhaupt nicht darüber nachgedacht habe. Ich habe lediglich reagiert und einen Bekannten gefragt, der geschäftlich häufig nach Norditalien musste, ob er mich mitnimmt. Unter ein paar Mänteln auf der Rückbank versteckt, schmuggelte er mich dann nach Mailand. Da Italien damals ein Verbündeter Deutschlands war, war ich dort auch nicht sicher. Aber immerhin hat man mich hier erst mal nicht vermutet. Da ich keine gültigen Papiere mehr hatte – meinen Ausweis, aus dem hervorging, dass ich Jude bin, hatte ich nämlich gleich verbrannt –, floh ich in die Berge. Nach ein paar Tagen brach ich erschöpft auf einer Wiese zusammen. Ein paar Bauern fanden mich und nahmen mich mit in ihr Dorf. Als sie allerdings merkten, dass ich Deutscher bin, wurden sie misstrauisch. Anscheinend hatten sie Kontakte zu einem Angehörigen eines der Partisanenverbände, jedenfalls stand am nächsten Tag eine Partisanin mit einer Pistole in der Hand vor der Tür und lud mich in ein Auto. Wortlos fuhr sie mit mir einen abgelegenen Waldweg entlang. Irgendwann hielt sie an, stieg aus und verschwand hinter dem Wagen. Da dachte ich dann, nun ist es aus. Jetzt erschießt sie dich. Aber Fehlanzeige, denn irgendwann stieg sie wieder ins Auto und fuhr weiter. Sie brachte mich zu einem Haus, in dem es von Partisanen nur so wimmelte. Einer der Männer, der mich dann verhörte, sprach gebrochen Deutsch. Irgendwie überstand ich diese und auch andere rätselhafte Überprüfungen, bis man mir mitteilte, dass ich mich vorübergehend bei ihnen verstecken könnte. Ich merkte aber, dass man mich ständig genau beobachtete, ob ich auch wirklich kein Spion war. Einer der Männer war ebenfalls Jude und mit ihm freundete ich mich an. Ehrlich gesagt hat mir diese Begegnung geholfen, mich mit meiner eigenen jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen. Dort auf einem Hügel in der Lombardei konnte ich die Vorurteile abschütteln, die ich in den Jahren zuvor so bereitwillig aufgenommen hatte.«
In der Stimme des Alten klingt eine Entschlossenheit mit, die Kimski anrührt.
»Und dann sind Sie selber Partisan geworden?«
»Ja. Ich hatte einige ruhige Tage auf dem Hügel verbracht, in denen ich meine Gedanken sortieren konnte, aber dann dachte ich: Dieser Wahnsinn kann doch nicht ewig weitergehen. Dieser Krieg muss ein Ende haben. Also griff ich selbst zur Waffe und beteiligte mich an Angriffen auf deutsche Truppen.«
»Und nach dem Krieg sind Sie dann wieder nach Mannheim gegangen?«
»Das stimmt. Ich habe es dort aber nicht lange ausgehalten. Mannheim war nicht mehr die Stadt, die ich gekannt hatte. Und die Menschen waren auch nicht mehr dieselben. Also ging ich bereits 1946 zurück nach Italien und habe mir eine Existenz als Geschäftsmann aufgebaut. Ich bin schon immer einer gewesen, der die Dinge anpackt.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagt Kimski.
In diesem Punkt unterscheidet Alberto sich ganz gewaltig von seinem Großvater, der die Dinge eher auf sich zukommen ließ. Er meckerte viel, hat aber nie versucht, selbst etwas zu bewegen. Über die Juden beschwerte er sich auch. Kimski erinnert sich auf einmal an Bemerkungen, die sein Großvater in seiner Kindheit gemacht hat. Nichts Großartiges, aber im Nachhinein, aus der Perspektive
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