Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Nicht zum ersten Mal hatte sich Marianne heute an den Schreibtisch gesetzt, ein Blatt Papier zur Hand genommen, um einen Brief an die Eltern zu schreiben, aber ihr wollte einfach nicht einfallen, wie sie beginnen konnte, und ohne einen ersten Satz machte es doch alles keinen Sinn. Reglos harrte die Feder nun schon seit einer geraumen Zeit über dem Bogen. Längst war die Tinte eingetrocknet.
Ich kann nicht weiter davonlaufen, ich kann und darf es nicht.
Aus einer anderen Ecke des großzügigen Zimmers drangen die Stimmen von Christoph und Onkel Hubertus zu ihr und Tante Juliane herüber. Hätte Marianne die Augen geschlossen, hätte sie sich fast zu Hause fühlen können, denn was die Franken anging, war Hubertus durchaus der Meinung seines Schwagers. Wie Valentin ihm aufgetragen hatte, bemühte Hubertus sich seit der Ankunft der Geschwister, den Neffen in das Weingeschäft einzuführen. Der interessierte sich allerdings mehr für das Geschehen auf der Straße und im Jakobinerklub. Zunächst jeden Abend, dann viermal wöchentlich wurden im Akademiesaal unter großem Publikumsandrang die Prinzipien der Demokratie erklärt, Kurfürst, Adel und Kirche attackiert und über eine glänzende Zukunft parliert. Manchmal war Christoph schon vom frühen Morgen an den ganzen Tag über verschwunden. Das abend liche Donnerwetter ließ er geübt ungerührt über sich ergehen.
Nicht zum ersten Mal im Verlauf ihres Gesprächs nahm Onkel Hubertus jetzt einen kräftigen Schluck Wein aus seinem Becher und fixierte seinen Neffen, die Stirn bedrohlich gerunzelt.
»Die Posamentierer sind wenigstens klug und bieten heute statt goldener Litzen und Borten blau-weiß-rote Nationalbänder an«, höhnte er.
Christoph sah von seiner Mainzer Zeitung auf, die nun nicht mehr »privilegiert« hieß, für dieses Mal unfähig, den Sticheleien seines Onkels auszuweichen. Die Nachricht, wie sehr die französischen Truppen im Umland weiterhin bedrängt waren, stimmte ihn unruhig.
»Und was ist dagegen einzuwenden, Onkel?«, schnaubte er. »In neuen Zeiten werden auch neue Dinge nachgefragt.«
»Und unsere Schuster liefern Schuhe an den Feind.« Hubertus schüttelte den Kopf so heftig, dass seine Perücke ins Rutschen geriet. »Man möchte sich die Haare raufen.«
»Geschäft ist Geschäft, oder?« Christoph spuckte die Worte beinahe aus, spürte, wie der Ärger unaufhaltsam in ihm hochquoll wie kochende Milch, die man auf dem Herd vergessen hatte und zu spät bemerkte. »Also, was erwartest du? Unsere Wirte haben sicher auch schon schlechter verdient. Es heißt sogar, es gibt neuerdings zahlreiche Anträge auf ein Bier- und Weinzapf.«
»Ich weiß gar nicht, warum mein Schwager dich zu uns geschickt hat.« Hubertus klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch. »Dieser verdammte Krieg macht ohnehin alles kaputt. Wer will da noch etwas verdienen?«
»Hast du nicht immer gesagt, Krieg ist gut fürs Geschäft, Onkel?« Christophs Stimme klang scharf.
Hubertus hob die rechte Augenbraue. »Dieser Krieg ist es nicht, denn sogar dir Heißsporn dürfte aufgefallen sein, dass er Import und Export erheblich behindert, zumal ins rechtsrheinische Deutschland.«
Von einem Moment auf den anderen schwiegen die Männer. Christoph widmete sich wieder seiner Mainzer Zeitung , dessen Redakteur Böhmer, wie auch er, ein Anhänger der neuen Zeiten war. Sie hatten sich bereits im Jakobinerklub getroffen und sich sehr gut unterhalten.
Marianne starrte auf das immer noch weiße Papier.
Jungfräulich, schoss es ihr durch den Kopf, und am liebsten hätte sie hysterisch gelacht. Himmel, sie wusste einfach nicht, was sie schreiben sollte. Wie sie sich auch anstrengte, die rechten Worte wollten ihr nicht einfallen. Liebe Eltern, ich erwarte ein Kind … Jetzt musste sie doch so heftig kichern, dass alle anderen im Raum sie verblüfft ansahen.
»Entschuldigt«, sagte sie leise. Dann starrte sie wieder auf das Papier.
Am nächsten Tag schickte Tante Juliane ihre Nichte und eine der Küchenmägde Besorgungen machen.
»Und danach kaufst du dir etwas Hübsches«, trug sie ihr auf, »und mach nicht so ein düsteres Gesicht.«
»Ist gut, Tante Juliane«, entgegnete Marianne und lief eilig die Treppen hinunter, bevor sie doch noch in Tränen ausbrechen konnte.
Wider Erwarten genoss sie es dann aber doch, nach neuen Romänchen Ausschau zu halten, sich hübsche Bänder und Hüte anzusehen. Unter den französischen Soldaten in der Stadt herrschte dieser Tage eine gewisse
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