Die verlorene Koenigin
seinen Atem hören? Es wird Euch bei lebendigem Leib verspeisen, Mylady. Nur ich kann Euch retten.« Seine zweite freie Hand, die er ihr entgegenstreckte, schimmerte blass in der Dunkelheit. »Nehmt meine Hand, Mylady, damit ich Euch hinaufziehen kan n – andernfalls ist Euch der Tod sicher.«
Tania starrte in den schwarzen Abgrund hinunter. Unter ihr leuchteten zwei feuerrote Augen. Sie konnte das Mahlen von Kiefern hören. Eine mit Krallen bewehrte Klaue griff nach ihr.
»Nehmt meine Hand oder sterbt!«, rief Gabriel. »Eine andere Wahl habt Ihr nicht.«
Doch da ertönte eine sanfte, leise Stimme in ihrem Kopf, so zart und hell, als würde plötzlich ein Stück blauer Himmel durch die finsteren Gewitterwolken schimmern.
»Doch, es gibt eine andere Möglichkeit, Tania«, sagte die Stimme einer Frau. »Erinnere dic h – früher einmal hattest du Flügel! Hab Zutrauen zu dir selbst und du kannst wieder fliegen.«
In Tania erwachte nun ein Hoffnungsschimmer. Es drängte sie zu kämpfen und Gabriels Macht zu brechen. Sie würde nicht zulassen, dass er sie in diese albtraumhafte Welt entführte. Nein!
Sie schrie auf, als ihre Schulterblätter zu brennen begannen. Es fühlte sich an, als würden zwei Messer in die Knochen stechen. Doch der Schmerz dauerte nur Bruchteile von Sekunden, dann spürte Tania Sehnen und Muskeln aus ihrem Rücken wachsen, die größer wurden, sich wie Hände öffneten und wie Blätter entrollten, als wären es bizarre neue Gliedmaßen.
Sie wand sich aus Gabriels Griff und stürzte nach unten. Er rief ihr etwas nach, aber der brausende Wind übertönte seine Worte.
Sie drehte sich in der Luft und spürte die Kraft, die durch ihre neuen Flügel strömte. Das Ungeheuer unter ihr brüllte. Seine Augen glühten wie Ofenlöcher und es versuchte sie mit den Krallen zu packen. Doch Tania hatte keine Angst mehr. Ihre Flügel durchteilten die Luft, sodass sie in einem langen, geschmeidigen Bogen aufstieg.
Sie flog in den regnerischen Himmel hinauf. Ihr Körper prickelte vor Freude, während ihre Flügel sich zusammenzogen und wieder auseinanderfalteten und sie immer höher stieg, bis sie über den schwarzen zerklüfteten Felsen von Ynis Maw schwebte. Der Geschmack von Eisen war verflogen. Sie streckte die Arme mit aneinandergelegten Handflächen über den Kopf, als wolle sie tauchen. Sie drehte sich in der Luft, schlug schnell mit den Flügeln, und in einem einzigen Atemzug stürzte sie sich nach unten ins Auge des Sturms.
Sofort umhüllte sie eine dichte, feuchte Dunkelheit, und ein paar quälende Augenblicke lang fürchtete sie, dass der Sturm sie ganz verschlucken würde. Im feuchten Innern der Wolke flatterte sie aus Leibeskräften und wurde dabei bis auf die Haut durchnässt. Doch dann stürzte sie mit einer Plötzlichkeit, die ihr den Atem raubte, wieder ins helle Tageslicht hinaus.
Jetzt bewegten sich ihre Flügel wie von selbst, und ihr Herz zerbarst fast vor Freude. So also war es, wirklich zu leben! Mit einem lauten Lachen schlang sie die Arme um sich und flog in Spiralen immer höher und höher, bis sie das Gefühl hatte, sie müsse nur noch die Hände ausstrecken, um den Himmel zu berühren.
Dann lachte sie wieder, wirbelte herum und verharrte einen Moment reglos in den oberen Luftschichten, spürte, wie der Wind, den ihre Schwingen erzeugten, ihr die Haare zerzauste. Über ihre Schulter warf sie einen Blick auf das hauchdünne Gewebe ihrer Flügel.
Unter ihren Füßen lag die Insel Ynis Maw vollkommen von einer brodelnden schwarzen Wolkenmasse verborgen. Hinter Tania und zu beiden Seiten erstreckte sich das grau-grüne Meer, soweit das Auge reicht e – vor ihr jedoch erhob sich eine dunkle Halbinsel aus den Wellen, die sich weiß schäumend an den zerklüfteten Klippen brach.
»Und jetzt?«, sagte Tania zu sich selbst und versuchte trotz ihrer momentanen Euphorie logisch zu denken. »Was kommt als Nächstes?«
Auf einmal hatte sie wieder den schrecklichen Eisengeschmack im Mund.
»Ihr erwacht aus Eurem Traum, Mylady«, sagte eine samtweiche Stimme, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Und kehrt in den Albtraum zurück.«
Kalte Finger schlossen sich um ihre Hand. Der blaue Himmel erlosch wie eine Kerze, die ausgeblasen wird. Wieder war überall um sie herum Dunkelheit und ihre Hand wurde mit eisernem Griff festgehalten. Ihre Flügel waren verschwunden und Gabriels Stimme drang wie Gift in ihre Gedanken. »Habt Ihr gedacht, Ihr könntet euch so leicht von mir
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