Die verlorene Koenigin
…« Tania brach ab, als Edric sie am Arm packte und zur Tür zog.
Einen Augenblick später stand Tania im Nieselregen und kochte innerlich vor Frustration.
»Hat der etwa gedacht, ich denke mir das aus?«, ereiferte sie sich.
»Ja, ich fürchte schon«, sagte Edric. »Komm, lass uns ein trockenes Plätzchen suchen, wo wir uns in Ruhe hinsetzen und uns abregen können.« Er ließ ihren Arm los. »Auf dem Weg hierher habe ich ein gemütliches Internetcafé gesehen. Dort gehen wir jetzt hin und planen, wie wir weitermachen.«
Im Café ergatterten sie einen Fenstertisch. Edric loggte sich ins Internet ein. Tania saß auf einem Barhocker, die Ellbogen auf dem Tisch und eine Tasse Cappuccino vor sich, an der sie sich die eiskalten Hände wärmte.
»Lilith Mariner ist Titania«, sagte sie. »Sie muss es sein.«
»Ja, das glaube ich auch«, stimmte Edric ihr zu, der angestrengt auf den Bildschirm starrte. »Der Name würde passen. Oberon ist auch als der ›Sonnenkönig‹ bekannt und Titania als ›Mondkönigin‹, und mit dem Namen ›Lilith‹ wird oft der Mond bezeichnet. Es gibt einen Kinderreim: Unter Liliths fahler Wacht durchwandert’ ich die tiefste Nacht, doch dann ging die Sonne auf und ein neuer Tag nahm seinen Lauf. Ich kann mich nicht erinnern, wie’s weitergeht, aber Lilith war jedenfalls der Mond.«
»Und Mariner?«
»Die Königin hat das Meer schon immer geliebt«, sagte Edric. »Matrose n – Seefahre r – Marine. Und schließlich bedingt der Mond die Gezeiten des Meeres. Es leuchtet ein, warum sie diesen Namen gewählt hat.«
Er hackte auf die Tastatur ein. »Aha!«
»Was ist?«
»Schau dir das mal an. Ich habe die Website der Plejaden-Anwaltskanzlei gefunden.«
Tania beugte sich zum Monitor hinüber. Die Homepage war dunkelblau mit sieben weißen Sternen. Als Edric den Cursor über die Sterne bewegte, erschienen Felder mit Stichworten:
Über uns. Lageplan. FAQs. Aktuelles. Rechtsbereiche. Aufbau der Kanzlei. Firmengrundsätze/Serviceangebote.
Edric wählte Aufbau der Kanzlei .
Eine neue Seite öffnete sich.
»O h … mei n … Gott«, flüsterte Tania.
Hier waren die Fotos von vier Personen zu sehen: ein großes Bild oben auf der Seite und drei kleinere darunter, unter denen sich auch George Mervyn befand.
Doch es war das oberste Bild, das Tanias Aufmerksamkeit fesselte.
Das herzförmige Gesicht, das ihr aus dem Porträt entgegenblickte, war das einer Frau, die Mitte dreißig schie n – einer schönen Frau ohne Falten oder andere Altersspuren auf ihrer makellos weißen Haut und keine Spur von Grau in den flammend roten Locken, die auf die Schultern ihrer dunkelgrünen Jacke fielen. Tania sah die vertrauten hohen, gebogenen Wangenknochen und den Mund mit den vollen Lippen. Rauchgrüne, goldgesprenkelte Augen blickten sie mit heiterer Gelassenheit a n – dieselben Augen, die Tania Tag für Tag sah, wenn sie in den Spiegel schaute.
Sie ließ den Blick zu einem Textblock unter dem Bild wandern.
Lilith Mariner, Bachelor of Laws, Master of Laws, Kronanwältin
Seit Lilith Mariner als Geschäftsführerin an der Spitze der Plejaden-Anwaltskanzlei steht, hat das Unternehmen herausragende Erfolge erzielt. Ihre profunde Kenntnis des Internationalen Rechts hat sie zu einer der begehrtesten Fachfrauen in ganz Europa werden lassen. Ms Mariner ist bestrebt, ihren Klienten die bestmögliche Vertretung zu stellen. Sie ist weithin bekannt durch ihre Pro-Bono-Arbeit, auf die die Plejaden-Anwaltskanzlei besonders stolz ist.
»Was ist Pro-Bono-Arbeit?«, fragte Tania.
»Das bedeutet, dass sie Menschen, die sich keinen Anwalt leisten können, umsonst vertritt«, erwiderte Edric.
Tania berührte mit zitternden Fingern Titanias Gesicht auf dem Bildschirm. »Wir haben sie gefunden. Wir haben sie endlich aufgespürt.«
»Ja, das haben wir.«
»Wir müssen ins Elfenreic h – und es allen erzählen!«, sagte Tania. »Edric, sie werden überglücklich sein! Kannst du dir vorstellen, wie sie reagieren, wenn sie es erfahren? Kannst du dir das vorstellen?«
XI
A uch wenn Tania darauf brannte, die großartigen Neuigkeiten über Titania unverzüglich an ihre Elfenfamilie weiterzugeben, wollte sie natürlich nicht auf offener Straße den Sprung in die andere Welt wagen. Trotz des hartnäckigen Nieselregens waren eine Menge Menschen unterwegs, und es dauerte einige Minuten, ehe Edric und sie ein abgeschiedenes Plätzchen fanden.
Sie waren einer schmalen Gasse gefolgt, die zum Fluss führte. Neben einer
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