Die Vermessung des Körpers
Gehirns zu erweitern, ist der Gebrauch der Schrift. Das Erstaunliche am Schreiben ist, dass es ein Mittel ist, durch das ein Gehirn miteinem anderen kommunizieren kann – im Fall dieses Buches kommuniziert mein Gehirn mit dem Ihren. Die Barrieren von Zeit und Raum sind außer Kraft gesetzt.
Die natürliche Kommunikation ist jedoch durch Raum und Zeit begrenzt. Tiere und Pflanzen kommunizieren meist im Hier und Jetzt. Mit wenigen Ausnahmen (bei nachklingenden Kommunikationen auf chemischer Basis) wird eine Botschaft produziert, wahrgenommen und verschwindet dann für immer. Die Schrift befreit uns von diesen Beschränkungen. Man kann ein Buch aus dem Regal nehmen und Worte lesen, die Tausende Kilometer entfernt und sogar Tausende Jahre zuvor geschrieben wurden. Es ist durchaus möglich, dass Sie in Ihrem Bücherregal mehr Kommunikation von toten Menschen als von lebenden haben, und es ist relativ unwahrscheinlich, dass auch nur einer dieser Autoren in derselben Straße wohnt wie Sie. Wenn Sie diese Worte lesen, wird es Monate oder Jahre her sein, dass ich sie geschrieben habe (am Dienstag, den 4. Oktober 2011, um 13.32 Uhr).
Freilich gibt es inzwischen andere Formen der Kommunikation, die direkter sind als das Schreiben, aber häufig überdauern diese Botschaften nicht die Zeit, wie es das geschriebene Wort kann. Weil diese Worte niedergeschrieben sind, werden sie auch in zehn Jahren noch hier sein, vielleicht sogar noch in 100 oder sogar 1000 Jahren. Den Kaltanruf, den ich gerade von einem New Yorker Börsenmakler erhalten habe, habe ich sofort in den Papierkorb der Zeit geworfen – die Kommunikation ist für immer beendet (in diesem speziellen Fall muss ich sagen: zum Glück).
Schreiben spielte für die Entwicklung unserer Technologiegesellschaft eine Schlüsselrolle. Ohne die Schrift gäbe es keine Wissenschaft, nur Mythen. Ohne die Möglichkeit, auf den praktischen Erfahrungen vergangener Jahre aufzubauen, müssten wir das Rad andauernd neu erfinden. Die Computertechnologie wird häufig als eine Art Feind des Schreibens betrachtet – warum noch ein Buch lesen, wenn man Videos auf YouTube anschauen kann? Ohne Schrift jedoch gäbe es garkeine Computersoftware und keine Hardwareentwicklung. Zudem besteht ein großer Teil der Internet-Inhalte nach wie vor aus Wörtern.
Mit Bildern schreiben
Die Schrift ist im weitesten Sinne eine Art Nebenstelle unseres Gehirns. Es ist eine Möglichkeit, Informationen aus einem menschlichen Gehirn extern so zu speichern, dass sie einem anderen Gehirn an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt zugänglich sind. Ursprünglich erfolgte dies in Form von Bildern. Die zum Teil über 30 000 Jahre alten Höhlenmalereien, die menschliche Wesen, Tiere und Handabdrücke zeigen, sind keine abstrakten Schmierereien, sondern ein Mittel der Kommunikation. Sie wurden im Raum festgehalten, waren langwierig in der Produktion und nur schwer zu entziffern, doch niemand kann bezweifeln, dass es ihnen gelungen ist, die Zeiten zu überdauern.
Mit den Jahren entwickelten sich aus diesen unmittelbaren bildlichen Darstellungen Piktogramme. Diese bestanden zwar immer noch aus erkennbaren Bildern, doch waren sie stilisierter, wodurch sie leichter auszuführen waren und in ihrer Erscheinung konsistenter wurden. Ein Piktogramm stand typischerweise für ein oder zwei Objekte, oder bisweilen auch für ein Konzept. Es braucht kein Genie, um eine Piktogramm-Botschaft zu interpretieren, in der auf dem Boden liegende Früchte, dann zwei Arme und schließlich Früchte in einem Korb dargestellt sind.
Das Problem mit einem solchen System ist, dass es schlicht zu viele Symbole gibt. Eine vereinfachte Variante würde separate Symbole für Früchte, Korb und Boden verwenden und diese in eine bestimmten Beziehung zueinander setzen – vielleicht mit besonderen Verbindungszeichen, die »auf« oder »in« bedeuteten, um die Symbole miteinander zu verbinden. Damit hätten sich die simplen Piktogramme zu sogenannten Ideogrammen weiter entwickelt – Symbolen, die ein abstraktes Konzept wie »auf« vermitteln können.
Man nimmt an, dass auf dieser Stufe die »Protoschrift« entstanden ist, der direkte Vorfahr unserer Schrift. Irgendwann vor neun bis sechsJahrtausenden verwendete man zur Übermittlung einfacher Botschaften Symbole mit einer gewissen visuellen Struktur. Es ist schwer zu sagen, wann genau die Protoschrift entstand, aber viele Archäologen sind der Auffassung, das derzeit bekannteste und beste frühe
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