Die Verratenen
»Bestimmt«, pflichte ich ihm bei. »Irgendwann kommt für jeden die Zeit.«
Morus ist weitergegangen, um Fleming zu gratulieren; wenn er meine Anspielung verstanden hat, ist es ihm gut gelungen, das zu verbergen. Dafür steht nun Grauko vor mir und umschließt meine Hände mit seinen.
»Glückwunsch. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Ich möchte ihn um Hilfe bitten, hier, sofort, ihm von meiner Angst erzählen. Wie früher, wenn ich mich verletzt hatte und zu Baja gelaufen bin.
Er drückt meine Hände ein wenig fester. Nicht, sagen seine Augen und ich nicke.
»Alles, was ich kann, verdanke ich Ihnen«, murmele ich. »Ich wünsche mir sehr, dass ich die Gelegenheit bekomme, mein Können einzusetzen.«
Er versteht genau, was ich meine. »Das wirst du«, sagt er beinahe tonlos.
Etwas schiebt sich in meine Hand, winzig und weich. Neupapier, vermute ich. Grauko drückt es mir zwischen Daumen und Zeigefinger, dort halte ich es fest.
»Du bist meine beste Studentin. Denk immer daran. Man kann die Welt mit Worten aus den Angeln heben, das hat bisher niemand so begriffen wie du.«
Wer uns beobachtet, sieht einen Lehrer, dem vor Stolz Tränen in den Augen stehen. Ich dagegen sehe Trauer. Grauko verabschiedet sich von mir. Sein Blick verrät mir alles – es gibt keinen Irrtum und kein Missverständnis und er weiß es.
Unsere Reise wird eine Reise in den Tod.
Erst als ich eine Stunde später wieder in meinem Quartier bin, öffne ich meine Hand und das kleine Stück Neupapier fällt heraus. Ich streiche es glatt und lese die drei Sätze, die dort in Graukos eleganter Handschrift stehen: Unsere wichtigste Lektion war die letzte. Du beherrschst sie. Vergiss sie nicht.
Dankbar ziehe ich seine Buchstaben mit den Fingerspitzen nach. Er hat mich nicht aufgegeben. Er bittet mich zu kämpfen, mit den Waffen, die er für mich geschärft hat: meinen Worten.
13
Zwei Tage bis zur Abreise, zwei Tage vollgestopft mit Vorbereitungen. In Extralektionen bekommen wir den Verhaltenskodex für die Sphäre Zukunft eingeschärft, üben, wie der Präsident zu begrüßen ist – rechte Hand aufs Herz, Kopf neigen –, und lernen den Tagesablauf für unseren Besuch auswendig. Während ich gemeinsam mit den anderen das perfekte Benehmen gegenüber Präsident und Regierung übe, kann ich keine Sekunde glauben, dass die Reise ein anderes, dunkleres Ziel haben wird als die Sphäre Zukunft. Erst als ich für kurze Zeit allein bin, schleichen sich die Ängste langsam wieder ein. Wann werden wir bemerken, dass die Magnetbahn die falsche Richtung einschlägt? Dass es nach Norden geht, zu den Verhörzellen in den Eiskerkern, und nicht nach Süden? Wird überhaupt genug Zeit für diese Erkenntnis sein? Für Angst, für Verhandlungen, für Unschuldsbeteuerungen?
Graukos Nachricht geht mir immer und immer wieder durch den Kopf. Die letzte Lektion: Umstimmung deines Gegenübers. Entscheidungen, die man nicht mehr zurücknehmen kann. Ich war gut, meine Gedanken sind meinen Worten in der richtigen Distanz vorangeflogen; als ich fertig war, hat Grauko mich gelobt wie selten zuvor. Bald werde ich dich nichts mehr lehren können, hat er am Ende gesagt.
Ich sitze auf dem Boden vor meinem Bett und beiße mir auf die Lippe. Grauko hat nicht nur von meinen Fähigkeiten als Rednerin gesprochen. Ihm muss bewusst gewesen sein, dass wir nur noch wenig Zeit haben. Und dass er nichts dagegen tun kann.
Mit wachsender Verzweiflung suche ich nach einer Gelegenheit, um in Ruhe mit Aureljo zu sprechen. Wir sind in einen so engen Terminplan eingebunden, dass es sich einfach nicht ergibt; immer ist jemand dabei. Was ich den Blicken entnehme, die er mir zuwirft, ist wenig ermutigend: Er denkt, ich habe mich geirrt. Er glaubt, was Gorgias gesagt hat. Sein Vertrauen in den Sphärenbund ist durch meinen Bericht nicht nachhaltig erschüttert worden. Wer weiß, vielleicht ginge es mir im umgekehrten Fall ebenso. Er hat sicherlich während Gorgias’ Ansprache nach Anzeichen von Lügen in seinem Verhalten gesucht und keine gefunden. Gut möglich, dass ich, wäre ich an Aureljos Stelle, dann ebenfalls an ein Missverständnis glauben würde.
Mein nächster Termin findet im Medcenter statt. Gesundheitscheck, es werden alle Laborwerte bestimmt. Sie untersuchen Herz, Lunge und Augen, kalibrieren den Salvator.
Eine halbe Stunde lang sitze ich mit Tomma im Warteraum, die so voller Vorfreude ist, dass sie kaum stillhalten kann und ohne Pause spricht.
»Meine Erkältung klingt
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