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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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meinen Körper geht, und bremse mich im letzten Moment. Hat es jemand bemerkt? Gorgias nicht, er hat noch immer diese verheißungsvolle Miene aufgesetzt und lässt sich Zeit mit seiner Bekanntmachung.
    Grauko hingegen schon. Er sitzt auf der linken Seite des Podiums, hat mich gut im Blick und wendet die Augen nicht von mir. Er hat mein Zucken wahrgenommen, und wenn der Rektor mich gleich zu sich ruft, wird Grauko wissen, dass ich darauf vorbereitet war. Er wird sich fragen, wie das möglich ist.
    »Es ist eine Studentin, die in Gesten und Gesichtern liest wie andere von ihren Datenterminals. Der kein Geheimnis und keine Gefühlsregung verborgen bleibt. Aureljo wird sich besonders über diese Reisebegleitung freuen. Es ist die Nummer 7: Eleria!«
    Es braust um mich herum, in mir. Der Applaus der anderen, das Blut in meinen Ohren. Ich weiß, dass ich aufstehen muss. Lächeln. Aber ich kann nicht, ich starre Gorgias an und sehe meinen Tod in seinen Augen.
    Dann tragen mich meine Beine doch. Zum Podium. Gut möglich, dass ich torkle und gleich falle. Lächeln, erinnere ich mich und ziehe meinen Mund in die Breite. Keine Ahnung, ob es überzeugend ist oder eine Grimasse.
    Da sind die Treppenstufen. Eine, zwei, drei, vier. Jemand reicht mir die Hand und zieht mich zu sich. Ich winke ins Publikum, mein Gesicht schmerzt.
    Da ist ein Teil in mir, klein und verrückt, der gerne an den Podiumsrand treten und losschreien möchte: Sie behaupten, wir werden dem Präsidenten vorgestellt, doch in Wahrheit werden sie uns hinrichten, ohne Anklage und ohne Prozess. Ihr werdet uns nie wiedersehen!
    Was würde geschehen, wenn ich das täte? Würde mir irgendjemand glauben?
    Natürlich nicht. Ich wäre schneller in der psychiatrischen Abteilung des Medcenters, als ich zu Ende sprechen könnte. Aber dann wäre es immerhin für den Sphärenbund schwieriger, die anderen zu töten. Sie müssten ihren Tod erklären, für ihr Verschwinden geradestehen.
    Ich zögere. Versuche, mich zu überwinden. Schaffe es nicht. An die winzige, winzige Möglichkeit zu glauben, dass alles nur ein Irrtum ist und wir tatsächlich geehrt werden sollen, ist einfach zu verlockend.
    Gorgias hat bereits damit begonnen, Lobeshymnen auf den letzten Kandidaten der Reise zu singen. »Ein wahres Genie auf fünf Instrumenten, darüber hinaus ein großes Talent in der bildenden Kunst. Der Präsident überlegt, eines der von ihm angefertigten Gemälde in seinen Räumlichkeiten aufzuhängen. Nummer 114: Dantorian!«
    Eins zu eins. Keine Abweichung von der Todesliste.
    Ich habe das Gefühl zu schweben, vielleicht ist das alles nur ein Traum, der Gratulationsreigen, der nun auf dem Podium einsetzt, existiert nur in meinem Kopf. Ich bin in Wirklichkeit eingeschlafen und meine Ängste haben das Kommando übernommen.
    Doch Morus’ Hand, die mir anerkennend auf die Schulter klopft, ist real. Sieht er schuldbewusst aus? Nein. Wenn ich etwas Ungewöhnliches in seiner Miene finde, dann ist es eine Art Erleichterung. Ungeschickt. Er müsste vorgeben, verärgert zu sein, weil Tudor nicht unter den Auserwählten ist.
    Wenn es etwas gibt, das uns derzeit einen geringen Vorteil verschafft, dann ist es die Tatsache, dass der Bund glaubt, wir wären ahnungslos. Zum Glück habe ich dem Impuls, mein Wissen in die Welt hinauszuschreien, eben nicht nachgegeben.
    »Freust du dich?«, fragt Morus, eine Herzlichkeit in der Stimme, die ich bei ihm bisher nur selten gehört habe.
    Ich nehme mich zusammen. Achte darauf, dass meine Stimme fröhlich klingt. »Oh, und wie! Ich wüsste ja gerne, warum ausgerechnet ich zu dieser Ehre komme.« Verschmitztes Lächeln, das ich dann abschwäche, als wäre mir plötzlich eingefallen, dass es taktlos ist. »Aber Tudor … Denken Sie, er ist sehr enttäuscht? Ich weiß, wie gern er den Präsidenten kennenlernen möchte.« Ich lasse Morus nicht aus den Augen. Seine Gesichtszüge entgleiten ihm keine Sekunde.
    »Nun, für Tudor wird das Ansporn sein, sich noch mehr für den Sphärenbund einzusetzen. Er hat die freiwilligen Arbeiten in letzter Zeit etwas vernachlässigt.« Wenn Morus lächelt, sieht man, dass seine Eckzähne fast stumpf sind. Ich frage mich, ob er nachts mit den Zähnen knirscht. »Du musst dir um Tudor keine Sorgen machen«, fährt er fort. »Seine Zeit wird noch kommen, davon bin ich überzeugt.«
    Ja, wenn Aureljo tot ist.
    Wieder dieses Bedürfnis, hinauszuschreien, was ich weiß. Was ist das nur plötzlich? Ich schlucke es hinunter.

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