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Die Verratenen

Die Verratenen

Titel: Die Verratenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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reden, sie will sogar eine Birke gesehen haben, was auch immer das ist.
    Es sollte mich interessieren, was sie erzählt, aber ich bin zu beschäftigt, den kleinen heißen Klumpen Wut zu bändigen, der in meinem Innern glüht. Erschöpfung schwächt meine Emotionskontrolle, das war schon immer so. Wie schön, dass Tomma so guter Laune ist. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich sie von Tychos Rücken zerren und mit dem Kopf voran in den nächsten Schneehaufen stecken.
    Nur dass der Schnee hier sehr selten in Haufen liegt. Er ist kaum mehr als eine knöchelhohe Schicht auf dem Boden, die man mit Schmelzgeräten leicht beseitigen könnte.
    Vor uns liegt eine Brücke, die einen breiten Fluss überspannt. Sie sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus, aber die Prims werden schon wissen, was sie tun. Ich achte darauf, immer in Sandors Fußstapfen zu treten. Unter uns rauscht Wasser. Es fließt frei, ich halte Ausschau nach Eisschollen, entdecke aber keine – nur an den Rändern des Flusses hat sich eine schmale Kruste gehalten.
    Am anderen Ufer steuern wir auf ein Gebäude zu, das intakt wirkt. Beim Näherkommen wird deutlich, dass sein guter Zustand kein Glücksfall, sondern das Ergebnis harter Arbeit ist: Es wurde instand gesetzt und ausgebaut. Das oberste der drei Stockwerke ist aus verschiedenen Steinarten gemauert, das Dach geflickt.
    »Sie bauen die alten Städte wieder auf«, murmele ich Aureljo zu. »Hast du das gewusst?«
    Er schüttelt den Kopf. »Das ist mir neu. Morus hat immer gesagt, sie leben in Erdhöhlen und Zelten aus Tierhaut.«
    Aus dem Haus laufen uns nun Menschen entgegen. Ich wappne mich innerlich gegen Tritte oder Schlimmeres, doch die Prims beachten uns nicht. Sie haben nur Augen für Maia.
    Drei Frauen werfen sich weinend über das tote Mädchen, drücken es an sich, küssen es, tragen es fort. Eine Frau fällt Milan um den Hals, sie umarmen sich und ich sehe, wie Milans Schultern erneut zu beben beginnen.
    Der Anblick der Szene ist gespenstisch. Noch nie habe ich erwachsene Menschen so unbeherrscht weinen sehen. Keinen der Sentinel, wenn sie einen getöteten Kameraden nach Hause brachten. Niemanden von uns, wenn ein alter Mentor oder ein Freund starb.
    Ich erinnere mich an die Trauerzeremonie für Lu, Raman und Curvelli – natürlich sind Tränen geflossen. Einzelne. Aber niemand hat seinem Schmerz vor allen Augen freien Lauf gelassen. Das tun wir in der Zurückgezogenheit unserer Quartiere, vielleicht. In Maßen, so, dass der Salvator nicht ausschlägt.
    Im gleichen Augenblick fühle ich die Vibration an meinem Handgelenk. Die Übereinstimmung ist so bizarr, dass ich eine Sekunde lang überzeugt bin, mir das Signal nur einzubilden. Ein langes Vibrieren, zwei kurze. Dasselbe Muster wie heute Morgen.
    Wir haben das Haus fast erreicht. Ich werde mich gedulden müssen, bis sich ein unbeobachteter Moment ergibt und ich die neue Nachricht in Ruhe lesen kann. Falls eine Nachricht eingetroffen ist.
    Maia wurde bereits hineingetragen, Milan verschwindet gerade durch die geöffnete Tür, danach Sandor und die meisten anderen. Uns lässt man warten.
    »Geduld«, sagt Andris. »Sandor überlegt noch, wohin er euch steckt.«
    Der Wolfsgott wirkt versöhnlicher. Ist wohl auch froh, den Fußmarsch hinter sich zu haben. Außerdem muss er uns nur ansehen, um zu wissen, dass keiner von uns in der Verfassung ist davonzulaufen. Wir müssen nicht groß bewacht werden.
    Ich lächle ihn an. Falls sie uns gleich wegsperren, ist jetzt die letzte Möglichkeit, Fragen zu stellen. »Ist Sandor euer Anführer?« Ich lasse den Satz wie beiläufig fallen. Als wäre er reine Höflichkeit, damit kein peinliches Schweigen entsteht.
    Andris reagiert wie erhofft, nämlich automatisch. »Na, beinahe«, ruft er. »Sandor ist Than. Noch sehr jung dafür, wirst du jetzt sagen, aber er –«
    In diesem Moment lässt Tycho Tomma in den Schnee gleiten. Sie quietscht erschrocken, als ihre Füße mit dem kalten Nass in Berührung kommen.
    »Kann nicht mehr«, flüstert er.
    »Du hättest mich warnen können«, jammert Tomma.
    Der lange Lederriemen in Andris’ Hand zischt durch die Luft. »Ruhe!« Seine hellblauen Augen mustern Tomma voller Abneigung. Sie würde gut daran tun, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Die Sache mit Maias Stiefeln wird nicht so schnell vergessen sein.
    Der kurze friedvolle Augenblick ist vorüber, die Gesprächsbasis mit Andris dahin. Er wird keine Fragen mehr beantworten. Sandor ist Than. Was bedeutet

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