Die Verschwoerung von Whitechapel
Gedanken.
»Gleave hat einen ziemlich heimtückischen Artikel über den Fall verfasst«, sagte er. »Er hat es wohl persönlich genommen, dass Adinett mit seiner Berufung nicht durchgekommen ist. Er war sein Verteidiger, das weißt du sicher noch. Möglicherweise ist der Mann tatsächlich von der Schuldlosigkeit seines Mandanten überzeugt.«
Sie hatte seinem Gesichtsausdruck mehr entnommen, als in seinen Worten lag, und sah ihn aufmerksam und besorgt an.
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ist noch Tee da?« Er legte die Zeitung zusammen und zögerte einen Augenblick. Wenn er sie mitnahm, brachte sie es glatt fertig, aus dem Haus zu gehen und selbst eine zu kaufen. Außerdem würde sie sich Sorgen machen, weil er versucht hatte, ihr diesen Schmähartikel vorzuenthalten. Er ließ das Blatt auf dem Tisch liegen.
Sie legte den Marmeladenlöffel hin und goss ihm Tee ein. Auch wenn sie nichts weiter sagte, war ihm klar, dass sie den Artikel lesen würde, kaum dass er aus dem Haus war.
Um die Mitte des Nachmittags bat der stellvertretende Polizeipräsident Cornwallis Pitt zu sich. Schon als er bei ihm eintrat, merkte Pitt, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Er vermutete, dass es um einen sehr schwierigen und delikaten Fall ging, etwa so wie der Mord an Fetters, eine Angelegenheit, in die eine hochstehende Persönlichkeit verwickelt war. Mit derlei hatte er in letzter Zeit des Öfteren zu tun gehabt.
Cornwallis, ein drahtiger mittelgroßer Mann, stand erkennbar unruhig hinter seinem Schreibtisch. Er hatte den größten Teil seines Lebens in der Marine verbracht und machte nach wie vor den Eindruck, es passe besser zu seinem Wesen, Männer
auf See zu befehligen und den Elementen die Stirn zu bieten, als sich der öffentlichen Meinung und der Tücke der Politiker zu stellen.
»Sir?«, sagte Pitt infragendem Ton.
Cornwallis machte einen zutiefst unglücklichen Eindruck. Er sah aus, als habe er lange überlegt, was er sagen könne, aber noch nicht die richtigen Worte gefunden.
»Ein neuer Fall?«, erkundigte sich Pitt.
»Ja … und nein.« Cornwallis sah ihn unverwandt an. »Wie zuwider mir das alles ist! Ich habe den ganzen Morgen dagegen angekämpft, mich aber nicht durchsetzen können. Keine Seeschlacht hat mir je so viel Unbehagen bereitet. Wenn ich wüsste, was ich tun kann, um das abzubiegen – ich täte es.« Er schüttelte leicht den Kopf. »Aber ich fürchte, ich würde es nur schlimmer machen, wenn ich der Sache weiter nachginge.«
Pitt wusste nicht, wovon der andere sprach, und fühlte sich durch dessen erkennbares Unbehagen sonderbar betroffen.
»Ein Fall, sagen Sie? Um wen geht es dabei?«
»Ja, im Londoner Osten«, gab Cornwallis zurück. »Ich ahne nicht im Entferntesten, um wen es dabei geht. Wenn man glauben darf, was man mir gesagt hat, sitzt da die Hälfte aller Anarchisten in London.«
Pitt holte tief Luft und sammelte sich. Wie allen höheren Polizeibeamten und einem großen Teil der Öffentlichkeit war ihm das Treiben der Anarchisten auf dem europäischen Kontinent bekannt. Immerhin hatte es in verschiedenen Hauptstädten dort wie auch in London mehrere Bombenanschläge gegeben. Die französischen Behörden hatten eine Liste mit Bildern von fünfhundert Anarchisten in Umlauf gesetzt, die gesucht wurden. Einzelnen wurde bereits der Prozess gemacht.
»Wer ist tot?«, fragte er. »Und warum werden wir da mit hinzugezogen? Das East End gehört doch gar nicht zu unserem Bezirk.«
»Niemand ist tot«, gab Cornwallis zurück. »Der Sicherheitsdienst ist eingeschaltet.«
»Ach, geht es um die Iren?« Pitt wusste nicht, was er denken sollte. Wie jedem anderen war auch ihm die verwickelte irische Frage vertraut, er wusste alles über die Fenier, kannte die weit
in die sagenhafte Vergangenheit hineinreichende Kette von Gewalttaten, Tragödien und blutigen Auseinandersetzungen, unter der Irland seit dreihundert Jahren litt. Er wusste, welches Maß an Unruhe in bestimmten Teilen Londons herrschte und dass man eine Spezialabteilung der Polizei eingesetzt hatte, die sich mit Bombendrohungen, Mordanschlägen oder auch kleineren Unruhen beschäftigte. Anfangs war sie als ›Sicherheitsdienst Irland‹ bezeichnet worden.
»Eigentlich nicht«, sagte Cornwallis. »Es sind ganz allgemein politische Schwierigkeiten, nur möchte niemand, dass man sie ›politisch‹ nennt, weil das in der Öffentlichkeit Unruhe hervorrufen würde.«
»Und was haben wir damit zu tun? «, wollte Pitt wissen.
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