Die Verschwörung
auch auf gar nichts mehr verlassen.
Lee stürmte in den Flur zurück, riß die Hintertür auf, rannte ins Freie, hetzte über die Terrasse, sprang und landete schwer im glatten Gras. Seine schuhlosen Füße rutschten aus, und er stürzte. Der Aufschlag ließ ihn nach Atem ringen, und er verspürte einen jähen, grellen Stich im Arm, wo sein Ellbogen auf den Boden geprallt war. Doch die Angst war ein großartiges Mittel gegen den Schmerz. Sekunden später war Lee auf den Beinen und jagte zum Waldrand.
Er war gerade hinter den ersten Bäumen verschwunden, als der Wagen am Haus vorfuhr. Die Scheinwerfer wippten auf und ab, als er von der flachen Straße auf den unebenen Boden fuhr. Lee machte noch einige Schritte, dann war er zwischen den Bäumen und ging in Deckung.
Der rote Leuchtpunkt hatte sich einige Sekunden lang auf Lees Brustkorb befunden. Serow hätte den Mann leicht erledigen können. Aber das hätte die Leute in dem Auto gewarnt. Der Ex-KGB-Mann richtete sein Gewehr auf die Tür an der Fahrerseite. Er hoffte, daß der im Wald verschwundene Mann nicht so dämlich war, noch einen Versuch zu machen. Er hatte bis jetzt sehr viel Glück gehabt und war dem Tod gleich zweimal entwischt. Man sollte sein Glück nicht versuchen. Außerdem zeugte es nicht von gutem Geschmack, überlegte Serow und blickte wieder durch das Laserzielfernrohr.
Lee hätte weiter flüchten sollen, er blieb aber keuchend stehen und schlich dann zum Waldrand zurück. Seine Neugier war immer sein größter Fehler gewesen. Außerdem - wer auch immer die elektronische Apparatur überwachte, hatte ihn wahrscheinlich längst identifiziert. Verdammt, diese Leute wußten wahrscheinlich schon, daß sein Zahnarzt lieber Coke als Pepsi trank. Also konnte er ebensogut in der Nähe bleiben und beobachten, was sich nun tat. Wenn die Leute aus dem Wagen in Richtung Wald kamen, mußte er eben machen, daß er davonkam, auch mit nackten Füßen. So einfach würden sie ihn nicht kriegen.
Lee duckte sich und zückte sein Nachtsichtgerät. Es war eine Neuentwicklung und dem Restlichtverstärker, mit dem er früher gearbeitet hatte, haushoch überlegen. Das Gerät benötigte überhaupt kein sichtbares Licht, sondern verwandelte Infrarotstrahlung in Bilder; im Gegensatz zu einem Verstärker konnte es dunkle Bilder von einem schwarzen Hintergrund unterscheiden: Die Wärmestrahlung wurde in kristallklare Bilder umgesetzt.
Als Lee die Schärfe einstellte, erschien ein grüner Bildschirm mit roten Bildern vor seinen Augen. Das Auto wirkte so nahe, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um es zu berühren. Die Motorhaube strahlte der großen Hitzeentwicklung wegen besonders hell. Lee beobachtete einen Mann, der an der Fahrerseite ausstieg. Er hatte ihn noch nie gesehen, aber die Frau, die auf der anderen Seite aus dem Wegen stieg und auf den Mann zuging, kannte er um so besser: Faith Lockhart.
Dann standen die beiden nebeneinander. Der Mann zögerte, als hätte er irgend etwas vergessen.
»Verdammt«, zischte Lee durch zusammengebissene Zähne. »Die Tür.« Er richtete sein Sichtgerät einen Moment auf die Hintertür des Cottage. Sie stand weit offen.
Der Mann hatte es allem Anschein nach gesehen. Er drehte sich um, wandte sich der Frau zu und griff in sein Jackett.
Serow, in der Deckung des Waldes, richtete den Laserpunkt auf den Halsansatz des Mannes. Er lächelte zufrieden. Der Mann und die Frau standen bestens in Position. Die Munition, die Serow benützte, war speziell für das Militär angefertigt: Stahlmantelgeschosse. Doch Serow interessierte sich nicht nur für Munition - auch für die Wunden, die sie schlug. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit würde die Kugel selbst sich nur minimal verformen, wenn sie das Ziel durchschlug. Doch die Freisetzung der kinetischen Energie des Geschosses würde verheerende Verletzungen hervorrufen. Die Eintrittswunde, der Wundkanal und das Austrittsloch waren um ein Mehrfaches größer als die Kugel, bevor die Wunden sich teilweise wieder schlossen. Die Zerstörung von Gewebe und Knochen trat strahlenförmig auf, vergleichbar einem Erdbeben, das noch in weiter Ferne vom Epizentrum fürchterliche Schäden anrichtete. In Serows Augen war das auf schreckliche Weise schön.
Was das Maß an kinetischer Energie betraf, war die Geschwindigkeit das Entscheidende, denn sie wiederum bestimmte das Maß der Schäden, die das Ziel davontrug. Verdoppelte man das Gewicht einer Kugel, verdoppelte sich auch die kinetische Energie.
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