Die Verschworenen
halte wieder Ausschau nach einem Lichtkegel, versuche Schritte oder Stimmen auszumachen, aber ohne Erfolg. Der Himmel ist eine weitere Schattierung heller geworden, die Zeit läuft uns davon.
Mein Instinkt will nichts als raus hier. Schnell zur Schleuse, ins Freie und viel Abstand zwischen uns und Vienna 2 bringen.
Vernünftigerweise müssten wir jetzt aber zehn Minuten warten. Oder wenigstens fünf. Ich bedeute Andris, er soll sich setzen. Er wird so bald keine Gelegenheit mehr dazu finden.
Wir haben Glück, wir sind nicht die einzigen Frühaufsteher heute. Es dauert nicht lange und ich höre das Lachen einer Frau; eine zweite stimmt ein.
»Jetzt«, sage ich zu Andris. »Wir gehen schnell, aber nicht hastig bis zum Ausgang. Wenn du den Sentineln gegenüberstehst, lächle sie an, okay?«
Er fletscht demonstrativ die Zähne und ähnelt mehr denn je einem wilden Tier.
»Freundlich, Andris. Nicht drohend.«
»Das ist freundlich.«
Ich hake mich bei ihm unter, damit er sich unauffällig auf mich stützen kann. Mein Plan ist, dass wir die Ersten bei der Schleuse sind, aber dicht gefolgt von den Frauen, deren Stimmen ich jetzt immer deutlicher höre. Die Aufmerksamkeit soll sich nicht auf uns allein konzentrieren. Wenn bloß Andris nicht so groß wäre. Immerhin ist sein Bart gestutzt und sein Haar im Nacken zusammengebunden. So ähnlich habe ich es auch bei anderen Arbeitern in der Sphäre gesehen.
Der Sentinel, mit dem ich die letzten Male herumgealbert habe, ist wieder da, das nehme ich als ein gutes Omen. Ich winke ihm schon aus einiger Entfernung zu.
Gleichzeitig will die Angst, dass gleich alles vorbei sein kann – wenn zum Beispiel eine der Wachen bei Andris’ Gefangennahme dabei war –, schwarz in mir hochbrodeln, aber ich dränge sie gewaltsam zurück. Es gibt jetzt kein Umkehren mehr.
37
»Guten Morgen.« Ich baue mich vor dem Sentinel auf und deute mit dem Daumen über meine Schulter. »Ich habe heute einen Kumpel mitgebracht, der dafür sorgen soll, dass mich da draußen keiner übers Ohr haut.«
Ich lache über meinen eigenen Witz und der Sentinel stimmt ein.
»Na, da hast du dir ja den Richtigen ausgesucht. Der muss neu sein, den habe ich noch nie gesehen.«
»Nein, er lebt schon länger in Vienna 2 als ich. War nur noch nie draußen am Ruhetag und ich zeige ihm heute, wie das läuft.«
»Aha.« Er mustert Andris eingehend. Kneift prüfend die Augen zusammen.
Verdammt, er kennt ihn, gleich wird er sich erinnern …
»Du blutest, Großer.« Der Sentinel deutet auf Andris linken Ärmel. In der Armbeuge des hellblauen Uniformhemds hat sich ein dunkler, nasser Fleck gebildet. Ich hätte einen Kompressionsverband anlegen sollen.
»Ist nicht sein Blut«, erkläre ich leichthin. »Wir hatten vorhin einen Typen mit Platzwunde da. Das war eine Sauerei, kann ich dir sagen.«
Ich zwinkere und tue dann so, als wäre mir plötzlich etwas eingefallen. »Ach, und weil ich dir doch letztens ein Geschenk versprochen und dann keins mitgebracht habe: Hier ist eine kleine Entschädigung.« Aus meinem Tragebeutel hole ich eine der vier Alkoholflaschen und drücke sie dem Mann in die Hand. »Dir wird schon etwas einfallen, was du damit anstellen kannst.«
Die meisten Sentinel trinken gerne, wenn sie die Gelegenheit bekommen, was selten genug der Fall ist. Entsprechend hoch ist der Tauschwert.
Wie ich gehofft hatte, schwindet das Interesse an Andris und mir umgehend. Der Sentinel schraubt die Flasche auf, schnuppert und strahlt. »Ab sofort bist du mein Lieblingsmädchen in Vienna 2.«
Ich stupse mit dem Zeigefinger gegen seine Brust. »Das will ich auch hoffen!« Warte mal ab, wie du in einer halben Stunde darüber denkst. »Und jetzt lass uns durch. Ich habe heute noch viel vor.«
Mit einer übertrieben galanten Geste macht er den Weg frei. Wieder bleibt sein Blick an Andris hängen. »Wieso ist einer wie du eigentlich Pflegehelfer? Normalerweise landet man mit so einem Körperbau automatisch bei den Sentineln. Kapier ich nicht.«
Andris hält sich an unsere Abmachung. Er gähnt, zuckt mit den Schultern und folgt mir.
Kühle Morgenluft, die so anders riecht als die vorgewärmte Luft der Sphären. Ich höre kleine Steinchen unter meinen Schuhen knirschen und kann es nicht glauben, kann nicht fassen, dass wir tatsächlich draußen sind.
Jetzt nur keinen unnötigen Fehler machen. Auf keinen Fall loslaufen, nicht direkt den Wald ansteuern.
Wir schlendern auf den Wall zu und wieder halte ich
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