Die Verschworenen
Hand. »He, he«, flüstert er. »Keine Angst haben. Sie kriegen uns nicht.« Er legt einen Arm um mich und mir wird zumindest an einigen Stellen meines Körpers etwas wärmer.
Es dauert Stunden, bis der Anführer der Sentinel die Suchaktion für beendet erklärt. Jedenfalls kommt es mir ewig vor. Ich höre, wie sich der Trupp entfernt, aber ich fühle keine Erleichterung. Ich kann mich kaum noch bewegen und ich will es auch nicht, habe es satt, mich zusammenzureißen, und mir graut vor allem, was vor mir liegt.
»Na komm. Wir wollen doch vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein.« Andris ist voller Vorfreude, er zieht mich auf die Beine – offenbar kehrt seine Körperkraft zurück.
Wir kriechen nach oben, wo mich plötzlich warme Luft umfängt. Kein Wunder, die Sonne steht an einem blauen Himmel, sie hat den höchsten Punkt bereits überschritten und malt nun helle Muster auf den Waldboden, leuchtende Streifen auf die Ruinen.
Routiniert überprüft Andris das Gebiet auf Spuren, er weiß genau, was er tut. Jeder geknickte Ast, jeder Fußabdruck auf der Erde liefert ihm Information.
»Sie sind nach da abgezogen«, erklärt er und deutet nach rechts. »Wir laufen geradeaus weiter. Mit ein bisschen Pech könnten wir ihnen noch einmal nahe kommen, falls sie nämlich in einem großen Bogen Richtung Nordwesten zu ihren Glaswarzen zurückmarschieren. Aber keine Sorge, das merke ich beizeiten.«
Wir gehen los, in deutlich höherem Tempo als am Morgen. Andris hebt im Vorübergehen einen Ast auf, der dicker ist als mein Arm und doppelt so lang. Ich dagegen verzichte darauf, mich zu bewaffnen, es hätte auch keinen Sinn. Meine Gelenke sind noch steif von der Kellerkälte und ich habe das Gefühl, dass mir eine gewaltige Last auf den Schultern jeden einzelnen Schritt erschwert.
»Wenn dir die Kraft ausgeht, trage ich dich«, erklärt Andris nach einem prüfenden Blick in mein Gesicht und ich beschließe, mich, so gut ich kann, zusammenzureißen. Im Gegensatz zu ihm bin ich völlig gesund. Ich werde keine Bürde sein, wenn ich es verhindern kann.
Während der Wochen, die ich in der Sphäre verbracht habe, ist der Schnee beinahe ganz verschwunden. Sogar in den schattigen Bereichen am Waldrand liegen nur noch kleine Flecken und nun, als wir aus dem Wald heraustreten, sehe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine grüne Wiese. Es ist keine Wiese wie aus den alten Filmen, die ich kenne – kein saftiges Gras, das bis über die Knöchel reicht und sich im Wind wiegt –, aber kurze, fast leuchtend grüne Halme, zwischen denen das matschige Braun des Bodens nur selten hindurchschimmert.
Es beginnt. Nein, es hat längst begonnen. Die Welt wird wieder, wie sie einmal war. Ein strahlender Ort voller Leben.
Ich passe mein Tempo dem von Andris an. Es hat keinen Sinn, sich drücken zu wollen, so verlockend es auch sein mag. Während wir die Wiese überqueren, beginne ich, mir im Kopf Sätze zurechtzulegen. Auf wichtige Gespräche bereitet man sich besser vor und noch heute steht mir eins der wichtigsten meines ganzen Lebens bevor. Während der ersten Stunde unseres Marsches begegnen wir niemandem. Keinem Außenbewohner, keinem Sentinel, Andris weiß, welche Wege er nehmen muss, um die Gefahr, entdeckt zu werden, gering zu halten.
Ich bin so in unserem gleichmäßigen Trott und meiner eigenen Gedankenwelt gefangen, dass ich, als Andris plötzlich stehen bleibt, fast in seinen breiten Rücken hineinlaufe.
»Wa–«
»Schhh.« Er macht ein schnelles, unmissverständliches Zeichen mit der rechten Hand. Feindclan . Mein Blick schnellt in alle Richtungen, aber ich kann keine Menschenseele entdecken. Wir stehen auf freiem Feld, am Fuß eines vor uns ansteigenden Hügels. Es sind nicht einmal Ruinen in Sichtweite, nur eine Gruppe junger Fichten, in der sich kein Clan verstecken könnte.
Ich bin drauf und dran, Andris zu erklären, dass seine Beobachtung wohl ein Irrtum sein muss, da rennt er los. Auf die Bäumchen zu. Im gleichen Moment wird zwanzig Meter vor uns das, was ich für einen Haufen aus Steinen und abgestorbenem Holz gehalten habe, lebendig.
Ein Mann, groß. Zottiges Haar bis auf den Rücken, in der Hand eine lange, brutal aussehende Klinge. Er stürzt auf Andris zu, der seinerseits den schweren Stock über dem Kopf schwenkt und auf den Gegner niedersausen lässt, doch der weicht aus. Bleckt fauchend die spitz gefeilten Zähne.
Ein Schlitzer.
Alle Geschichten, die ich je über diesen Clan gehört habe, sind mir sofort
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