Die Verschworenen
versagen können, wenn ein Mensch sehr unglücklich ist, und ich fürchte, dass ich gerade Zeuge eines solchen Falls werde. Morgen muss ich Quirin bitten, einen Blick auf Tomma zu werfen.
»Was hältst du davon, mich in die Bibliothek zu begleiten, wenn ich das nächste Mal hingehe?«, starte ich einen letzten Versuch. »Ich habe schon mindestens vier Werke gefunden, die sich mit Botanik beschäftigen, eins davon ist ein richtiger Almanach, so schwer, dass man es kaum heben kann.«
Sie antwortet nicht. Starrt einfach geradeaus.
»Oder soll ich dir ein paar Bücher mitbringen? Ich bin sicher, Quirin hat nichts dagegen.«
Wieder keine Reaktion. Ich gebe auf. Wahrscheinlich hätte ich mehr Erfolg bei Tomma, wenn ich ihr versprechen würde, Yann mit hinunter in unser Gewölbe zu bringen, aber das kann ich nicht.
Die nächsten zwei Tage vergrabe ich mich im wahrsten Sinn des Wortes im Tiefspeicher der Bibliothek. Neben mir wachsen die Bücherstapel zu Türmen, noch nie hatte ich so viel vermischtes und ungefiltertes altes Wissen um mich herum. Manche Buchtitel lassen mich ratlos zurück, zum Beispiel Die ultimative Google-Bibel . Ich vermute dahinter ein religiöses Werk, aber das stellt sich als Irrtum heraus, es ist ein Ratgeber, der helfen soll, mit einer früheren Form von Datenterminals besser umzugehen.
Auf einen Extrastapel sortiere ich lesbare Bücher, die sich mit Familie, Kindererziehung und Ehe beschäftigen. All das ist für mich unbekanntes Terrain und ich brenne darauf, zu erfahren, wie diese Dinge vor der Langen Nacht gehandhabt wurden.
Allein die Menge an Werken, die sich mit Problemen bei der Aufzucht von Kindern beschäftigen, zeigt mir, dass der Sphärenbund zumindest in einem Punkt recht hat: Etwas so Heikles und Schwieriges darf man nicht in die Hände von Laien legen, nur weil sie die biologischen Eltern sind.
Obwohl ich konzentriert und ohne nennenswerte Pausen arbeite, habe ich nicht den Eindruck, Fortschritte zu machen. Der Speicher ist so gewaltig, dass man hundert Leute bräuchte, um hier wieder Ordnung zu schaffen.
Oder hundert Jahre.
Alles, was ich an medizinischen Werken finde, sammle ich ebenfalls auf einem Extrastapel, vielleicht ist in einem der Bücher eine Therapie gegen Tommas Erkältung beschrieben, die wir auch mit unseren bescheidenen Mitteln durchführen können. Quirin hat sich bisher nicht bei ihr blicken lassen, er war die letzten Tage vor allem draußen unterwegs und hat Boten anderer Clans empfangen. Sosehr es mich auch interessiert hätte, was diese zu berichten hatten – weder ich noch jemand anderes aus unserer Gruppe durfte sich in der Halle zeigen. Also beschränke ich mich auf meine Arbeit mit den Büchern und koche Tomma abends ein Gebräu aus heißem Wasser und Tannennadeln, die Fiore uns zu diesem Zweck gebracht hat.
Es passiert am dritten Tag, kurz nachdem ich mein Mittagessen beendet habe. Bojan hat mir Gesellschaft geleistet, mir aber auch nicht sagen können, wann Quirin Zeit für Tomma haben wird.
»Es wäre besser, sie würde mit hinauf in die Halle kommen, wenn er euch das nächste Mal zu sich ruft«, meint Bojan.
Das weiß ich selbst, aber Tomma sträubt sich leider immer noch gegen alles, was ich vorschlage. Als würde sie mich persönlich für ihr Unglück verantwortlich machen. Vielleicht klappt es besser, wenn Aureljo sich ihrer annimmt.
Bojan geht und ich knie mich wieder vor den unübersichtlichen Haufen von Büchern, am dem ich heute arbeite. Als hätte ein wütender Riese dieses Regal geschüttelt, ungeachtet der Tatsache, dass es fest in Boden und Decke verankert ist. Oder aber das Chaos ist Resultat eines Erdbebens.
Ich ziehe das erste Buch heraus und stelle fest, dass gut die Hälfte fehlt. In der Mitte des Rückens auseinandergerissen. Mein Herz blutet und ich denke daran, mit wie viel Sorgfalt wir in den Sphären die alten Papierbücher behandelt haben, in dem Wissen, dass sie unwiederbringliche Schätze sind.
Hier draußen waren andere Dinge wichtiger. Wärme zum Beispiel.
Ich lege das kaputte Buch weg, in dem Haufen vor mir stecken auch jede Menge lose, herausgerissene Blätter. Wenn man sich die Mühe machen würde, sie den dazugehörigen Büchern wieder zuzuordnen …
Einen solchen Auftrag hätten wir Studenten der Akademie als Auszeichnung verstanden und wir hätten jede freie Minute darauf verwendet. Ich hingegen sitze hier, drehe das nächste Buch zwischen den Händen und frage mich, ob es diese Mühe wert ist. Der Titel
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