Die Verschworenen
gelesen hat. Ihre Lampe. Ihre Stiefel.
Tycho streicht die Decken glatt, bevor Aureljo Tomma darauf ablegt. Sie sieht plötzlich kleiner aus. Und jünger, wie ein Kind.
Erst Fleming, dem jemand ein Messer zwischen die Rippen gestoßen hat. Jetzt Tomma. Wir waren sechs, nun sind wir nur noch vier. Der Nächste wird vielleicht von einem Wolf angefallen oder ein Schlitzer schneidet ihm die Kehle durch, und irgendwann hat der Sphärenbund sein Ziel erreicht.
Die Betreffenden müssen getötet werden .
Wenn es so weitergeht, müssen sich die Exekutoren nicht einmal die Finger schmutzig machen.
Eine Emotion durchbricht die Leere in meinem Inneren, es ist Wut, und ich begrüße sie wie eine alte Freundin. Sie und ich, wir könnten gemeinsam Dinge gegen die Wand werfen oder Leute anbrüllen, sie für das Geschehene verantwortlich machen. Irgendwann werden wir erschöpft sein, uns in eine stille Ecke setzen und der Trauer dabei zusehen, wie sie ihre grauen Fäden webt.
»Es tut mir so leid.« Quirins Stimme unterbricht meine Gedanken, anders als sonst klingt sie alt und brüchig. »Tomma wird mir immer als lebensfroher und kluger Mensch in Erinnerung bleiben. Sie hat alles geliebt, was wuchs und blühte, ich wünsche ihr Bäume und Wiesen, dort, wo sie jetzt ist.«
Ein paar Worte nur, schon laufen neue Tränen über mein Gesicht. Ich muss an Grauko denken … Wäre er enttäuscht, dass ich mich überhaupt nicht um Emotionskontrolle bemühe?
Nein. Ich glaube nicht. Sie ist ein Mittel zum Zweck und im Moment gibt es nichts, was ich damit erreichen könnte.
Aureljo steht hinter mir und schlingt seine Arme um mich, sein Atem geht zitternd. Du bist der Nächste, denke ich. Sie werden dich schnappen, bevor du die Sphäre überhaupt betreten kannst. Vielleicht auch erst kurz danach, wenn du gerade wieder beginnst, dich an die Wärme zu gewöhnen. Du wirst in einem dunklen Raum sterben, allein und ohne jemanden, der deine Hand hält, denn offiziell bist du längst tot, und die Sphären geben ungern Fehler zu, schon gar nicht derart unangenehme. An wie viele Korrekturmeldungen kannst du dich aus den letzten, sagen wir, fünf Jahren erinnern? Zwei, höchstens, und keine davon war von großer Bedeutung. Sie können es sich nicht leisten, dich am Leben zu lassen.
Ich mache mich von Aureljo los, im gleichen Augenblick, als Quirin weiterspricht.
»Wir müssen uns überlegen, wie wir Tomma zur letzten Ruhe geleiten.« Er sieht jeden von uns an, einen nach dem anderen. »Wir können sie nicht verbrennen, wie wir es bei Fleming getan haben. Das Feuer würde Menschen anlocken – Clanmitglieder, Sentinel, Feinde. Sie zu begraben ist ebenfalls schwierig. Selbst wenn Sandor und Bojan gemeinsam arbeiten, brauchen sie mehrere Stunden, um ein Loch auszuheben, das groß genug ist. Auch das würde auffallen, schon wegen des Lärms.«
Meine Freundin, die Wut, erwacht zu neuem Leben. Wie kann Quirin dieses Thema in einem solchen Moment zur Sprache bringen?
»Ich habe nachgedacht«, fährt er fort, »und eine Lösung gefunden, die mir sinnvoll erscheint. Es gibt alte Begräbnisstätten unter der Erde. Dort können wir Tomma bestatten und ihr habt die Möglichkeit, ihr Grab zu besuchen, wenn ihr das wollt.«
Unter der Erde, schon wieder. Tiefer wahrscheinlich, als jede Baumwurzel reicht. Ich will protestieren; wenigstens nach ihrem Tod soll Tomma die Welt vergönnt sein, nach der sie sich so gesehnt hat. Ihr Rauch soll in den Himmel steigen und sich dort mit den Wolken mischen, das wäre ein tröstlicher Gedanke.
»Gut.« Aureljos Antwort kommt meiner zuvor. »Ich bin sehr froh, dass du so umsichtig bist, Quirin. Es ist eine vernünftige Lösung.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe, meine Augen brennen. Ja, eine vernünftige Lösung, in unser aller Sinn. Nicht von Emotionen getrübt. Eine Entscheidung, wie ich sie vor wenigen Wochen selbst getroffen hätte, ohne zu zögern.
Was hat sich geändert?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich keine Minute länger hierbleiben will, ich brauche einen Ort, an dem ich allein sein kann, niemanden hören und sehen muss.
Ich überprüfe, ob ich meine Stablampe in der Jacke habe, und gehe, ohne ein Wort. Was Aureljo mir nachruft, verstehe ich nicht, und es ist mir auch egal. Ich habe nicht vor, mit ihm oder einem der anderen zu sprechen, bevor ich mich wieder fühle wie ich selbst.
Der Tiefspeicher empfängt mich mit dem vertrauten Geruch nach Papier und uraltem Staub. Ich verkrieche mich
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