Die Verschworenen
ihren Verhaltensmustern zu beschäftigen. Ein Mensch, der mich überraschen will, hat eine schwierige Aufgabe vor sich, aber einem Tier kann das jederzeit gelingen. Ich habe nicht gelernt, tierische Signale zu deuten.
Zeit für eine neue Herausforderung. Als ob ich davon in letzter Zeit nicht genug gehabt hätte. »Ich würde ihn sehr gerne halten.«
Sandor senkt seinen Arm, woraufhin Kelvin sofort in Richtung Schulter zu marschieren beginnt. Als er am Ende des Handschuhs angekommen ist, zieht Sandor ihn aus und reicht ihn mir.
Ich schlüpfe hinein. Warm und trocken. Ein bisschen zu groß, aber verlieren werde ich ihn nicht.
»Halte ihm die Hand hin. Vor seine Fänge. Wenn er bei dir ist, heb ihn hoch, am besten über deinen Kopf, sonst nimmt er sich den als Sitzplatz.«
Ich tue, was Sandor sagt, aber Kelvin lässt sich bitten, klammert sich an Sandors ungeschütztem Arm fest.
»So nicht, mein Freund.« Ein Schubs, und der Falke hüpft auf meine Hand, die Schwingen weit ausgebreitet, als müsste er sein Gleichgewicht suchen.
»Drohgebärde«, erklärt Sandor. »Musst du nicht ernst nehmen, solange du deine Augen nicht in Schnabelnähe hast.«
Kelvin ist leichter, als ich dachte, außerdem ist er misstrauisch – der Blick, den er mir aus seinen gelb umrandeten Augen zuwirft, verheißt nichts Gutes.
»Er mag es, wenn man ihm über die Brustfedern streicht.« Sandor macht es mir vor.
Ich ringe mit mir – der Vogel wird meine Unerfahrenheit spüren und sich zur Wehr setzen –, aber ich will mir mein Unbehagen nicht anmerken lassen.
Also mache ich einfach genau das, was Sandor getan hat. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, ohne Zögern und ohne Hast. Es funktioniert. Kelvin lässt sich streicheln, er sitzt ruhig auf meiner Faust, nur manchmal packt er mit seinen krallenbewehrten Fängen fest zu, als wollte er testen, ob ich empfindlich bin.
»Gut.« Sandor lächelt, das tut er selten. »Wenn du aufhörst, wird er fortfliegen wollen. Du kannst ihm helfen, indem du deine Hand ein Stück senkst und dann nach oben schnellen lässt, als würdest du etwas hochwerfen.«
Innerlich kämpfe ich mit der Vorstellung eines sich an meiner Faust festklammernden Falken, der trotz all meiner Bemühungen nicht wegfliegen möchte, sondern stattdessen seine Krallen durch den Handschuh und meine darunter befindliche Hand bohrt, doch Kelvin nutzt den Schwung, den ich ihm gebe, und hebt sofort ab, steigt mit kräftigen Flügelschlägen höher und höher, bis er eine Luftströmung findet, die ihn trägt.
Wir sehen ihm nach, den Kopf in den Nacken gelegt. Ich spüre, wie meine Schulter Sandors Oberarm berührt, und warte darauf, dass er von mir abrückt, doch das tut er nicht. Im Gegenteil. Er legt seinen Arm um meine Taille und drückt mich einmal, ganz kurz nur.
»Mir gefällt, wie schnell du lernst«, sagt er und lässt mich wieder los. »Du wirst außerhalb der Sphären überleben, du hast das Zeug dazu.« Die folgende Frage stellt er mir beiläufig, jedenfalls soll es so klingen, aber ich höre die leichte Anspannung in seiner Stimme. »Außer natürlich, du hättest doch beschlossen, zurückzugehen.«
Ich denke an Aureljo und die Identitätschips. An Sphärenschleusen, die sich schließen und jeden Fluchtweg abschneiden.
»Nein.« Das Gefühl von Verlust ist schmerzhaft und fast übermächtig. »Das habe ich nicht.«
Von da an kommt Sandor häufiger vorbei. Immer knapp vor Sonnenaufgang. Jedes Mal führt er mich an einen Ort, dessen Sicherheit er kurz davor überprüft hat, und tatsächlich begegnet uns nie jemand, kein einziges Mal. Ich übe mich weiterhin im Bogenschießen, im Überwinden von Mauern und im Orientieren unter freiem Himmel. Kelvin hört auf, mich misstrauisch zu beäugen, und lässt sich von mir füttern. Ich darf sogar über seinen Schnabel streichen, ohne dass er nach mir hackt.
Die anderen sehen meine Ausflüge mit gemischten Gefühlen. Tycho unterstützt mich, er betrachtet mich als Verbündete, die sich, so wie er, auf das Leben draußen einstellt und mit den Sphären abgeschlossen hat. Aureljo versucht dagegen, mich durch bunte Schilderungen seiner Fortschritte zu begeistern, sein Enthusiasmus wirkt meistens echt, nur ganz selten schimmert die Anstrengung durch, die dahintersteckt. Zweimal ertappe ich ihn dabei, wie er mich betrachtet, und bin von dem traurigen Ausdruck in seinen Augen gerührt. Trotzdem ist keine Einigung in Sicht. Er weicht nicht von seinen Plänen ab und ich nicht von
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