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Die verschwundene Frau

Die verschwundene Frau

Titel: Die verschwundene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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überhaupt nicht wahrgenommen.
    »Mein Name ist V. I. Warshawski. Ich würde mich gern mit dem Priester über eines seiner Gemeindemitglieder unterhalten.«
    Es dauerte wieder eine ganze Weile, bis ein alter Mann in T-Shirt und Pantoffeln die Tür öffnete. Sein Oberkörper und Nacken waren kräftig wie bei einem Gewichtheber. Er sah mich an, als wolle er mich gleich hochheben und die Treppe hinunterwerfen.
    »Vater Lou?«
    »Sind Sie von der Polizei oder von der Presse?« Er hatte die rauhe Stimme, die man oft bei alten Iren an der South Side hört.
    »Nein, ich bin Privatdetektivin... «
    »Es ist mir egal, ob Sie privat arbeiten oder für die Polizei. Jedenfalls werde ich es nicht zulassen, dass Sie in der Vergangenheit des Jungen herumschnüffeln und versuchen, ihm irgendwas anzuhängen.« Er drehte sich um und schickte sich an, die Tür wieder zuzumachen.
    Ich drückte gegen die Tür; es kostete mich alle Kräh, sie so weit offen zu halten, dass ich durch den Spalt rufen konnte: »Ich will Lucian Frenada nichts anhängen. Im Gegenteil: Ich habe versucht, den Herald-Star daran zu hindern, dass er die Drogengeschichte über ihn bringt. Ich habe außerdem versucht, mit Lacey Dowell zu sprechen, weil sie etwas über den wahren Grund weiß, warum er umgebracht wurde, aber sie will nicht mit mir reden. Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht etwas wissen.«
    Der Druck von der anderen Seite ließ etwas nach. Vater Lou tauchte stirnrunzelnd wieder in der Tür auf. »Und was wollen Sie, wenn Sie nicht vorhaben, schmutzige Geschichten über Lucy auszugraben?«
    »Bitte. Könnten wir uns in Ruhe unterhalten? Ich kann Ihnen das alles erklären, aber nicht, wenn ich hier draußen in der Hitze stehen und den Fuß in der Tür lassen muss, weil ich Angst habe, dass Sie sie mir vor der Nase zuknallen.«
    »Ich mache gerade Pause«, brummte der Priester. »Alle hier wissen, dass sie mich zwischen sechs und sieben nicht stören dürfen. Nur so kann ein alter Mann wie ich noch eine große Gemeinde leiten.«
    Offenbar hatte der Fußballtrainer mir das zu erklären versucht -der Priester ist da hinten, aber stören Sie ihn nicht, er macht gerade ein Schläfchen. Ich wollte mich soeben entschuldigen, als Vater Lou sagte: »Aber seit Lucys Tod kann ich sowieso nicht mehr richtig schlafen. Da kann ich mich auch mit Ihnen unterhalten.«
    Er führte mich in einen großen, dunklen Vorraum. Trotz seines Alters bewegte er sich leichtfüßig wie ein Tänzer oder Boxer.
    »Vorsicht, Stufe. Ich habe kein Licht im Flur - ich muss jeden Cent sparen, weil wir in der Gemeinde kein Geld haben; schließlich will ich nicht, dass der Kardinal den Laden hier dichtmacht, weil wir zuviel kosten.«
    Dann schloss Vater Lou einen kleinen Nebenraum auf, in dem schwere Möbel aus dem neunzehnten Jahrhundert standen. Acht Stühle mit verzierten Beinen waren ordentlich um einen schwarzen Tisch arrangiert. Ein russschwarzes Gemälde von Jesus mit Dornenkrone hing über einem kalten Kamin.
    Der Priester bot mir einen der Stühle an. »Ich koche uns einen Tee. Machen Sie es sich bequem.«
    Leichter gesagt als getan auf dem Holzstuhl. Die Blumen, die in seinen Rücken geschnitzt waren, drückten mir in die Schulterblätter. Ich rutschte ein Stück nach vorn. Vom Tisch aus lächelte mich eine Gipsfigur der Jungfrau Maria traurig an. Ihre Lippen hatten Sprünge, und die Farbe an ihrem linken Auge fehlte, aber das rechte musterte mich geduldig. Sie trug einen Mantel aus ausgeblichenem Taft, ordentlich mit handgeklöppelter Spitze gesäumt.
    Vater Lou kam mit einem zerbeulten Metalltablett wieder, auf dem sich eine Teekanne und zwei Tassen befanden, als ich gerade die Finger über den Stoff des Mantels gleiten ließ. »Die Spitze ist hundert Jahre alt; die gleiche haben wir auch am Altar. Wie, sagten Sie, heißen Sie?«
    Als ich ihm meinen Namen noch einmal sagte, versuchte er, sich auf polnisch mit mir zu unterhalten. Da musste ich ihm gestehen, dass ich nur eine Handvoll Worte konnte, die mir die Mutter meines Vaters beigebracht hatte; meine eigene Mutter, eine italienische Einwanderin, hatte immer in ihrer Sprache mit mir geredet. Da wechselte er zu Italienisch über und freute sich diebisch über mein Erstaunen.
    »Ich bin schon ziemlich lange hier. Habe schon Italiener getauft und Polen verheiratet, und jetzt halte ich die Messe auf spanisch. Die Gegend hier ist schon immer ein Armeleuteviertel gewesen; allerdings war's nicht immer so gefährlich. Die Leute von der

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