Die Versteckte Stadt: Thriller
Rückschlag.“
Till sah, wie Max die Decke ein wenig hochzog, um seine Füße frei zu bekommen.
„Das war, als Bengt zwölf Jahre alt war“, fuhr Bentheim fort. „Als er dreißig wurde - “
„Papa?“
Bentheim brach ab und sah hoch. Max hatte sich in seinem Bett aufgestützt und sah zu ihm. „Papa, ich versteh gar nichts, müssen wir das lesen?“
Till schauderte zusammen. Warum hörte Max nicht einfach zu? Was gab‘s da denn nicht zu verstehen?
„Was verstehst du denn nicht, Max?“, fragte Bentheim und Till hatte das Gefühl, trotz der Ruhe in seiner Stimme zu hören, dass er sich anstrengen musste, so gefasst zu erscheinen.
„Wieso Bengt diese Zahlen erfindet, was das soll - ich verstehe überhaupt nicht, worum es geht. Ich dachte, wir lesen eine … eine Seeräubergeschichte vielleicht … hattest du nicht neulich mal etwas von einer Seeräubergeschichte gesagt?“ Max‘ Stimme verlor sich ein wenig, als hätte ihn der Mut plötzlich verlassen.
Bentheim wischte sich kurz über die Augenbraue. „Jetzt haben wir doch hiermit angefangen.“
„Ja, okay, aber was soll das denn, das mit den Zahlen?“
„Willst du nicht wissen, wie es ausgeht?“
Max legte sich zurück auf sein Kissen. „Wie geht es denn aus?“
‚Dazu musst du ihn fertig lesen lassen!‘, schrie es in Till, aber zu seiner Überraschung klappte Bentheim das Buch zusammen - nicht ohne den Zeigefinger dort zwischen die Seiten zu klemmen, wo er gelesen hatte - und beugte sich vor. „Der Junge macht immer weiter so“, erzählte er, „ersetzt immer mehr Wörter und Sätze durch Zahlen, bald schon ganze Absätze, dann Kapitel und ganze Abhandlungen. Die schwierigsten Gedankengänge fasst er unter einer Zahl zusammen. Das erfordert natürlich eine enorme Konzentration, eine phantastische Geisteskraft, aber Bengt ist so schlau, dass er nicht durcheinanderkommt. Er bedient sich in allen möglichen Wissenschaften, saugt deren Ergebnisse auf, etikettiert sie mit einer Zahl, wendet sich der nächsten Disziplin zu, so dass er als erwachsener Mann schließlich das gesamte Weltwissen mit ein paar Zahlen handhaben kann. Wenn er redet, versteht schon seit langem niemand mehr ein Wort von dem, was er sagt, es sind nur endlose Ketten von Zahlen. Aber es ist nicht so, dass es Unsinn ist, was Bengt sagt. Wenn sich jemand die Mühe macht und die Zahlenreihen aufschreibt, und sich dann von Bengt auseinandersetzen lässt, was jede einzelne Zahl bedeutet, dann kann er durchaus nachvollziehen, was Bengt meint. Nur dass er dafür ein paar Monate braucht, während Bengt einfach nur ‚8000677 784529 775344219‘ sagt.“
Max starrte seinen Vater an. „Ah.“
„Ja.“ Till sah, wie Bentheims Blick auf seinem Sohn ruhte. Alle Schärfe war jetzt daraus gewichen, es war ein liebevoller, ein besorgter Blick, ein Blick, wie Till sich immer gewünscht hatte, dass er auf ihm einmal ruhen würde.
„Am Anfang hat Bengt sich noch ein paar Mal die Mühe gemacht, den anderen Menschen seine Zahlen-Sätze zu übersetzen, aber bald schon dauert ihm das alles zu lang, bald schon redet er mit niemandem mehr, nur noch mit sich selbst. Und auch das stellt er bald ein und beginnt, die Sätze nur noch aufzuschreiben. Denn er ist davon überzeugt, dass - auch wenn die anderen ihn jetzt nicht verstehen - in ferner Zukunft einmal die Menschen so weit sein werden, seine Zahlen-Sätze zu begreifen.“
Jetzt war doch wieder ein wenig Farbe in Max‘ Gesicht zurückgekehrt. „Und?“, fragte er. „Kommt es so, wie er sich das vorgestellt hat?“
Bentheim lächelte. „Fast. Es dauert tatsächlich zweihundert Jahre. Zweihundert Jahre lang liegen Bengts Schriften in einem Keller und modern vor sich hin. Bengt ist vollkommen in Vergessenheit geraten, schon zu Lebzeiten hatte sich niemand mehr für diesen zahlenspuckenden Kauz interessiert. Aber nach zweihundert Jahren werden seine Schriften entdeckt, und inzwischen sind auch die anderen Menschen so weit, dass sie verstehen, was er aufgeschrieben hat.“
Er hielt inne.
Max riss die Augen auf. „Aus?“
Bentheim lachte. „Naja, die entscheidende Frage ist jetzt natürlich, was Bengt aufgeschrieben hat, oder?“
Max holte Luft, Till merkte ihm an, dass das Interesse, das sein Vater für einen kurzen Moment in Max entfacht hatte, schon wieder zu verfliegen begann. „Ja“, sagte er, aber es klang eher wie eine Frage.
„Die Menschen lesen also Bengts Schriften und sie entdecken, dass es stimmt. Er hat vor zweihundert
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