Die Verstoßenen (Verlorene Erinnerungen) (German Edition)
noch und die Tränen zogen wie Flüsse über ihre
Wangen. Da wurde es ganz still, bis auf ihre klagenden Rufe. Die Bestien hatten
ihr Mahl beendet und blickten nun neugierig in ihre Richtung.
„Hoooooope!“ sie schrie lauter und schriller, doch ihre Stimme zitterte
und bebte.
„Neeeeeeein!“ ihre Stimme drohte zu versagen.
Sie weinte immer heftiger, sie würde nie wieder aufhören können zu
weinen, nie wieder würde sie glücklich sein. Sie wollte nicht mehr leben,
wollte nicht noch mehr so schreckliche Dinge sehen! Sie wollte nicht noch mehr
Menschen verlieren, wollte nicht mehr grausame Erinnerungen Nacht für Nacht
durchleben und jeden Morgen mehr einen Teil von sich verlieren, sie konnte
nicht mehr, sie wollte nicht mehr! Sie löste ihren Halt, nahm ihre letzte Kraft
und hievte sich mit einem Ruck über die Brüstung.
Eine stumme Sekunde verging, dann fiel sie unendlich tief, nie endend,
sie fiel, sie hatte alles losgelassen und war bereit mit der Vergangenheit
abzuschließen, auf ihre Weise, sie wollte so nicht leben, sie konnte nicht und
sie fiel und würde nie mehr so leben müssen…
Kapitel 41
Sie marschierten stramm, Jay voraus, Sam bei ihm. Ceela glitt stumm
über den taufeuchten Boden und ihr Phantomblick starrte auf ihre Füße. Olivia
hielt ihre Hand und führte sie. Madison redete vergnügt von den Backkünsten
ihrer Großmutter, die Zwillinge schwiegen, schüttelten die Köpfe über das
Gesprächsthema und warfen zwischendurch eine bissige, hochgebildete Erklärung
über die Wetterphänomene ein. Sam und Jay navigierten mit dem Kompass und Kyle
drängte sich neben sie und tat so, als würde er alles verstehen, was sie
beredeten. Tom hatte seit dem ersten Tag nichts gesprochen, er lief stumm neben
ihnen her und hatte diesen verstörten Blick, der auf den Boden gerichtet war.
Ceela und Olivia waren ins Gespräch gekommen:
„Wie lange kennst du Grace schon?“, fragte Olivia ruhig.
„Erst seit der Busfahrt.“
„So kurz erst? Ihr wirkt sehr vertraut miteinander.“
„Ja, das ist schön. Sie ist eine gute Freundin, meine erste richtige
Freundin, seit ich mich erinnern kann, weißt du. Das ist was Besonderes, sie
ist eine besondere Person.“ Ceela klang aufrichtig und auch traurig, dass Grace
verschwunden war.
„Warum warst du immer so ein Einzelgänger?“ Olivia war ernst und
interessiert, nicht gespielt. Das machte sie zu einer guten Zuhörerin. Ceela
hatte sie gern.
„Ich weiß nicht, ich bin anders. Die Leute haben Angst vor etwas, was
anders ist, so sind sie eben.“
„Ich weiß genau, was du meinst.“
Dann schwiegen sie eine gefühlte Ewigkeit, liefen stumm nebeneinander
her. Ceela blickte auf und flüsterte:
„Was glaubst du, wo sie ist?“
„Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung.“
„Ich vermisse sie.“
„Ich auch. Hast du einen Verdacht, wo sie ist?“
„Nein, nicht die leiseste Ahnung.“
„Dann sind wir genauso weit wie gestern…“, sagte Olivia traurig.
„Wenn ich nur eine Vermutung hätte, dann könnten wir sie suchen. Ich
hab Angst um sie.“
„Ich auch…Aber im Moment können wir nichts für sie tun. Uns bleibt
nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass es ihr gut geht.“
„Da hast du wohl Recht.“
Olivia schaute in diese glasklaren eisig blauen Augen und konnte ihren
Blick nicht von dem blinden Mädchen nehmen. Sie tat ihr leid. Sie konnte ihr
extremes Mitgefühl nicht beschreiben, nicht in Worte fassen, doch es
existierte.
Ceela blieb stehen. Verwundert blickten ihre Gefährten zu ihr hinüber.
„Ceela, was ist…?“, begann Sam.
Sie schüttelte den Kopf und hob symbolisch den Zeigefinger vor ihren
Mund. Sie spitzte die Ohren, angespannt und konzentriert, bedacht darauf, alles
wahrzunehmen. Da war es! Leise, in weiter Ferne.
Das heilende, beruhigende Rauschen von Wasser. Um sicher zu gehen, dass
sie sich nicht irrte, (Sie irrte sich nicht, sie irrte sich nie, doch machte
diese Geste sie um einiges glaubwürdiger) ließ sie sich auf die Knie fallen und
grub ihre Hände in den Waldboden. Sie wog die Erde in den Händen, sie war ganz
feucht und klebrig vom Nebel, aber auch von der Wasserquelle, die gar nicht so
weit entfernt lag. Ceela öffnete ihre Hände, ließ die Erde hinabrieseln und
wischte ihre Hände an der Hose ab, dann schritt sie vorwärts. Verdutzt blickten
ihr die Anderen eine Weile wie gelähmt nach, dann setzten auch sie sich in
Bewegung, deutlich verwundert von der eben abgelaufenen Situation.
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