Die Versuchung der Hoffnung
manchmal denke ich, meine Eltern haben einfach nicht verstanden, dass wir mittlerweile erwachsen sind. Was mir früher Sicherheit gegeben hat, engt mich heute ein.
Ich bin froh, dass die Uni so weit weg ist. Meine Eltern hätten mich sonst niemals zu Hause ausziehen lassen. Natürlich kann ich theoretisch machen, was ich will. Ich bin schließlich volljährig. Trotzdem fühle ich mich meiner Familie gegenüber irgendwie verpflichtet. Es ist schließlich meine Familie. Und sie alle, Mom, Dad und Mike, sind mir wichtig.
Das hält mich aber trotzdem nicht davon ab, heute Abend wegzugehen. Zum einen fällt mir hier zu Hause sonst die Decke auf den Kopf, zum anderen habe ich ein Date. Ein Date mit Jonathan Petterson!
„Hast du genug gegessen, Schatz? Und setz dir eine Mütze auf, es ist kalt draußen.“ Wie immer dringt die Stimme meiner Mutter trotz ihrer geringen Lautstärke zu mir durch, als würde sie direkt in meinem Kopf sitzen.
Mit Absicht lasse ich die Mütze am Haken hängen. Wenn sie mich wie ein kleines Kind behandelt, dann will ich auch mal wie eins reagieren. Außerdem trage ich das blöde, kratzende Ding sowieso fast nie.
Bevor ich die Tür hinter mir schließen kann, kommt Mom noch einmal hinter mir her und hält mich auf. Dann drückt sie mir etwas in die Hand.
„Hier“, flüstert sie theatralisch. „Weil du doch immer meine Pflaster für mich besorgst.“
Nachdem ich die Haustür hinter mir zugezogen habe und betrachte, was sie mir gegeben hat, weiß ich nicht, ob ich lachen, schreien oder weinen soll.
In meiner Hand liegt ein Eindollarschein sowie eine halb darin eingewickelte Fünfzigcentmünze. Einen Moment lang kann ich diese Summe nicht zuordnen, aber dann fällt es mir ein: Es ist mein Anteil an der Ersparnis aus den letzten drei Malen Hormonpflaster kaufen. Die Hälfte, großzügig aufgerundet. Fehlt nur, dass sie mir sagt, ich soll nicht alles auf einmal ausgeben.
Kapitel 8
Valerie holt mich wieder mit dem Auto ab, und als ich bei ihr einsteige, atme ich erleichtert auf. Umgehend stellt sich das schlechte Gewissen bei mir ein, denn im Gegensatz zu mir kann Mike nicht einfach verschwinden, wenn ihm alles zu viel wird. Er ist in seinem Körper gefangen und im Haus mit meinen Eltern. Wenn meine Mom zu Hause ist, dann ist die Stimmung besonders schlimm. Es ist fast so, als wäre sie diejenige, die krank ist und nicht mein Bruder.
Manchmal kommt es mir so vor, als würde sie in einer grauen, mächtigen Wolke aus Depression und Pessimismus alles ersticken. Dabei wirkt sie selbst so ohnmächtig und zerbrechlich, dass man sich in ihrer Gegenwart kaum traut, auch nur die Stimme zu erheben.
Wenn ich genauer darüber nachdenke, habe ich die meiste Zeit bei meinen Eltern tatsächlich nur geflüstert. So, als wäre gerade jemand gestorben. Irgendwie ist das abartig. Mit einem Seufzen nehme ich mir vor, mit Mike in Zukunft nur noch extra laut zu sprechen. Der Ärmste muss sich ja fühlen, als läge er bereits auf seinem Sterbebett. Ich hätte an seiner Stelle schon längst zusätzlich ein Magengeschwür bekommen, wenn ich den ganzen Tag mit meiner Mutter zusammenleben müsste.
Mit einem weiteren tiefen Seufzen beschließe ich, meinen großen Bruder mal wieder etwas mehr aufzumuntern, wenn ich das nächste Mal zu Hause bin.
„Alles okay mit dir?“ Valerie wirft mir einen besorgten Seitenblick zu.
„Ja, mir geht’s gut. Nur Mike leider nicht so besonders. Und meine Mutter macht die ganze Situation leider auch nicht unbedingt viel besser.“
„Wenn ich mit deiner Mutter länger als einen halben Tag im selben Haus zusammenleben müsste, würde ich auch krank. Glaub mir.“
Ich muss lachen.
„So schlimm ist sie auch nicht. Sie macht sich halt Sorgen.“
„Was allerdings verständlich ist“, fügt Valerie jetzt versöhnlich hinzu.
„Ja, ist es wirklich.“ Auch ich mache mir Sorgen. Ganz schreckliche sogar. Und eigentlich sollte ich mich stattdessen lieber auf mein heutiges Date freuen, aber ich kann einfach meinen Kopf nicht richtig freibekommen. Auch die halbstündige Fahrt nach Auburn hilft da nicht.
Als wir anhalten und aussteigen, bleibt Valerie kurz vor mir stehen und betrachtet mich eingehend.
„Du siehst wunderhübsch aus heute Abend!“ Dann streicht sie mit dem Daumen über meine Stirn und über meine Augenbrauen. „Aber die Sorgenfalten, die solltest du wirklich lieber hier lassen.“
Ich muss lächeln und fühle mich gleich ein bisschen besser.
Die
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