Die Versuchung der Hoffnung
Nicken bekräftige ich meine Aussage.
„Okay. Dann lass uns bitte noch kurz zu meinem Auto gehen.“
Dort angekommen, beobachte ich mit Erstaunen, wie John den Kofferraum öffnet und eine Flasche Wein und Pralinen hervorzaubert.
„Ähm, John?“
Schulterzuckend dreht er sich zu mir um.
„Du solltest doch langsam wissen, dass ich immer und auf alles vorbereitet bin!“
„Du bist mein persönlicher Held. Mein Weihnachtsheld! Fehlt nur die rote Mütze.“
„Oh, die müsste ich eigentlich auch irgendwo …“ Diesmal beobachte ich mit einigem Entsetzen, wie er sich wieder suchend über seinen Kofferraum beugt. Meiner Meinung nach gibt es nämlich kaum etwas Peinlicheres, als diese albernen Weihnachtsmannmützen, mit denen alle um diese Jahreszeit meinen herumlaufen zu müssen. Und John mit so einer geschmacklosen Kopfbedeckung mit zu meinen Eltern nehmen zu müssen … Das geht einfach gar nicht!
Nach ein paar Sekunden taucht er grinsend wieder auf.
„War nur ein Scherz!“ Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, der vermutlich gerade von entsetzt zu erleichtert wechselt, fängt er an zu lachen. „Niemals würde ich dir so etwas antun, Hope.“
Froh greife ich wieder nach seiner Hand und langsam breitet sich Aufregung in mir aus. Schließlich ist es das erste Mal, dass ich einen Mann mit nach Hause bringe.
Meine Eltern nehmen John ein wenig stirnrunzelnd in Empfang, sind aber so überrumpelt, dass sie erst einmal nichts sagen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ein bisschen schockiert sind, John sieht eben eher aus wie ein Bad Boy als wie der nette Junge von nebenan. Da kann auch sein weißes Hemd mit der offenen schwarzen Weste, die aussieht, als würde sie zu einem dreiteiligen Anzug gehören, nicht drüber hinwegtäuschen. John sorgt für Aufregung.
Meine Mutter ist während des Essens so furchtbar aufgedreht, dass ich mich permanent für sie schäme. Während sie sonst kaum lauter als ein erkältetes Mäuschen spricht, ist sie heute laut und schrill. Sie erzählt peinliche Geschichten von früher und am liebsten welche über mich. Sie startet mit der Geschichte, als ich als Neugeborenes das halbe Badezimmer vollgepullert habe, berichtet anschließend darüber, wie sie mich als Vierjährige bei Doktorspielchen mit dem Nachbarsjungen erwischt hat, um dann zu erzählen, wie niedlich ich war, als ich mich mit sechs in einen Mitschüler verliebt habe.
Gleich erwürge ich sie, Weihnachten hin oder her!
Mittlerweile traue ich mich schon kaum noch, von meinem Teller hochzublicken. Meine Serviette ist bis zur Unkenntlichkeit zerknüllt und meine Wangen brennen heiß, so unangenehm ist mir das alles.
Als sie dann damit anfangen will, die Story meiner ersten Periode zum Besten zu geben, wird es meinem Vater zu bunt und er schreitet ein.
„Würdest du uns jetzt vielleicht etwas von deinem wunderbaren Eierpunsch zubereiten, Liebes?“ Meine Mutter springt auf und verschwindet eine halbe Stunde in der Küche und ich kann fürs Erste durchatmen.
Der Rest des Nachmittags läuft, dank größerer Mengen Alkohol, die meine Mutter ruhig statt redselig machen, erstaunlich entspannt ab. Es fängt früh an dunkel zu werden. Als John, der neben meinem Bruder der Einzige ist, der keinen Alkohol getrunken hat, aufsteht, um sich zu verabschieden, räuspert Mike sich vernehmlich.
„Es hat den ganzen Tag geschneit und du hast anderthalb Stunden Weg vor dir. Ich glaube nicht, dass du heute noch zurückfahren solltest.“ Mein Bruder lächelt, mit sich selbst hochzufrieden, und zwinkert mir zu, während meine Mutter hörbar nach Luft schnappt. Wie gesagt: Für sie ist es unvorstellbar, dass ein Mann bei mir übernachtet, hier in ihrem Haus. Außerdem gehe ich schwer davon aus, dass Jonathan nicht unbedingt ihren Wunschvorstellungen vom optimalen Schwiegersohn entspricht.
„Mom!“, die Stimme meines Bruders ist tadelnd. „Du wirst doch nicht ernsthaft so unhöflich sein wollen, einen Gast an Weihnachten vor die Tür zu setzen und ihn in diesem Schneegestöber nach Hause fahren zu lassen?“ Mein Bruder scheint gerade eine nahezu diabolische Freude daran zu entwickeln, meine Mutter dazu zu nötigen, dass John über Nacht hierbleiben darf. Das muss heute Mikes persönliche Form des Widerstands gegen sie sein. Offenbar sind ihre Geschichten ihm genauso auf den Geist gegangen wie mir, und mein Bruder und ich haben schon immer zusammengehalten. Anders wären wir gegen unsere Mutter auch aufgeschmissen gewesen.
Weitere Kostenlose Bücher