Die Versuchung der Hoffnung
zur Treppe und beobachten, wie mein großer Bruder ein Paar selbst gestrickte Socken auspackt. Ich kann nur hoffen, dass sie damit noch eine Weile beschäftigt sein werden. Während meine Mutter über die Vorzüge von echter Wolle im Vergleich zu Polyacryl oder Baumwolle referiert, wandert der Blick meines Bruders plötzlich zur Seite. Er schaut erst irritiert, dann grinst er breit.
Ich kann mir in etwa denken, was gerade hinter mir passiert und sterbe tausend Tode. Hoffentlich drehen sich meine Eltern nicht gerade jetzt um!
Statt am Saum meiner Jacke zu spielen, beginne ich jetzt, die Fingernägel von Daumen und Ringfinger gegeneinanderschnippen zu lassen, wie immer, wenn ich nervös bin.
Meine Mutter redet immer noch über verschiedene Wollarten, mein Vater nippt an seinem Kaffee und Mike sieht jetzt irgendwie ein bisschen verzweifelt aus.
„Ich würde dann gern weitermachen … Ich nehme dann mal das Geschenk hier rechts.“ Er macht eine Geste, die in dieselbe Richtung zeigt und mir rutscht das Herz in die Hose, ganz offensichtlich versucht er dem verirrten Jonathan den richtigen Weg zu weisen.
Ich konzentriere mich darauf, ruhig sitzen zu bleiben, denn wenn ich mich jetzt umdrehe, sind meine Eltern garantiert alarmiert. Als Mike wenige Sekunden später tatsächlich nach seinem Geschenk greift und mir zuzwinkert, atme ich erleichtert auf.
„Und ich dachte schon, ich halluziniere, als ich dich vergangene Nacht habe stöhnen hören …“, raunt er mir feixend zu, als er sich später neben mich setzt. Umgehend laufe ich krebsrot an und muss so doll lachen, dass ich mir auf die Zunge beißen muss, um nicht aufzufallen.
Meine Geschenke fallen unspektakulär aus, von dem Paar Socken aus reiner Wolle natürlich mal ganz abgesehen. Nach der Bescherung und einer ausgiebigen Dusche melde ich mich zu Hause ab, um eine Runde spazieren zu gehen.
Kaum, dass ich das Haus verlassen habe, rufe ich John an, der nach dem zweiten Klingeln schon am Telefon ist. Draußen fängt es gerade an zu schneien, beinah wie in einem furchtbar kitschigen Weihnachtsfilm.
„Hi!“ Sobald ich Johns Stimme höre, fühle ich das aufgeregte Kribbeln in meinem Körper, das sich sofort ausbreitet, wenn ich nur an ihn denke.
„Hey John, mein kleiner Ausbrecherkönig.“ Am anderen Ende der Leitung höre ich sein leises Lachen. „Wo bist du gerade?“
„Hier!“, antwortet er direkt hinter mir. Ich drehe mich um und falle ihm in die Arme. Er hebt mich hoch und wirbelt mich zweimal herum und ich muss lachen, weil ich auf einmal so furchtbar glücklich bin. Als er mich absetzt, küsst er mich, einmal, dann noch einmal, dann greift er in seine Tasche und holt ein kleines Päckchen hervor.
„Fröhliche Weihnachten, meine Schöne!“
„Oh!“, hauche ich und reiße es ihm fast aus der Hand. Ich liebe Geschenke. Und vielleicht mag ich tatsächlich auch deswegen Weihnachten so gern.
Schnell wickle ich den kleinen, schweren Gegenstand aus dem Papier aus und betrachte dann ein bisschen verdutzt den winzigen silbernen Drachen in meiner Hand.
„Der sieht ein bisschen aus wie meiner“, erklärt John mir und reibt sich über die tätowierte Brustseite. „Ich dachte, er kann auf dich aufpassen, wenn ich mal nicht bei dir sein kann, um das zu erledigen.“
Andächtig versuche ich zu nicken und kann ein Lächeln dabei trotzdem nicht unterdrücken.
„Gefällt er dir nicht?“ John klingt leicht verletzt.
„Doch, John, er ist wunderschön.“ Dann greife ich in meine Tasche und hole ebenfalls ein Päckchen hervor.
„Auch dir fröhliche Weihnachten, Jonathan!“ Feierlich überreiche ich ihm sein Geschenk. Als er es ausgepackt hat, fängt er schallend an zu lachen, in seinen Händen hält er einen silbernen Drachen, der genauso aussieht wie der, den er mir geschenkt hat.
„Ich dachte, damit dein Drache nicht so allein ist, wenn ich mal nicht da bin …“
„Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe. Ganz im Ernst.“ Er küsst mich sanft. „Und dass wir uns das Gleiche schenken, finde ich irgendwie besonders schön!“
Hand in Hand machen wir einen wunderschönen Winterspaziergang, während die Schneeflocken immer dichter vom Himmel fallen.
„Ich glaube, es gibt gleich Essen zu Hause.“
„Bist du dir wirklich sicher, dass du mich mitnehmen willst?“ Wir stehen uns gegenüber und halten uns an beiden Händen, während er mir prüfend ins Gesicht sieht.
„Ja, ich bin mir ganz sicher!“ Durch eifriges
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