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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gedächtnis zu behalten. Sie erklärte später immer: »Ich kann es nicht genau sagen. Wer könnte das schon?«
    Es geschah, nachdem Timmy und Pearl nach Shropshire gezogen waren.
    Estelle sah im Fernsehen Tennis, als es passierte. Sie hätte sich das Datum anhand des Wimbledon-Turniers merken können, doch sie wollte einfach nicht. Bevor Sonny hinausging, sagte sie zu ihm: »Die amerikanischen Spieler geben niemals auf. Sie sind nicht wie wir. Billie Jean wird nicht aufgeben, da bin ich mir ganz sicher.«
    Sonny ging zum Fluß hinunter. Wolf, sein Hund, war bei ihm. Sonny nahm das kleine Gewehr mit, eine Schrotflinte vom Kaliber 4 mm, mit der er Kaninchen jagte. Diese waren durch die Findigkeit der Menschen schon einmal fast ausgestorben gewesen, doch dann waren sie wiedergekommen. Die Menschen ließen sich in ihrem Glauben, der Natur überlegen zu sein, nicht beirren, doch diese schlug ihnen immer wieder ein Schnippchen.
    Es war ein feuchter, trüber Tag. Die Wolken hingen wie ein schwerer Teppich zwischen dem Himmel und der Erde.
    Sonny wußte nicht, warum seine Wahl auf den Fluß gefallen war, doch als er ihn sah, war es ihm klar. Im Fluß lagen Erinnerungen. Und Entschlossenheit.
    Er kauerte sich auf den Boden. Mit sechsundfünfzig war es unbequem zu kauern. Er wünschte, es gäbe einen Stein, auf den er sich setzen könnte. Nachdem er eine Weile in dieser Hockstellung verharrt hatte, ließ er sich auf die Knie fallen.
    Er war an der Stelle, wo sein Vater Weiden gepflanzt hatte. Damals war damit Geld zu machen. Man steckte Weidenstücke in den Boden und kanalisierte das Wasser zu ihnen hin. Die Stöcke verwurzelten, und es wuchsen kleine Bäume heran, aus denen eine Krone mit Weidenruten trieb. Diese Ruten wurden geschält und an Dachdecker und Korbmacher verkauft. Es war Geld für nichts.
    Alles im Leben von Sonnys Vater war spät gekommen, abgesehen vom Tod. Er war schon alt, als Sonny noch ein Kind war – ein alter Mann, der seine Weiden am Fluß anpflanzte, lachte und sagte: »Geld für nichts!« Doch das stimmte gar nicht. Eine ganze Jungenschar war damit beschäftigt, die Weidenruten zu schälen, wofür ein unpraktisches Gerät benutzt wurde, das einer stumpfen Schere glich. Sonny war einer von ihnen. Sie kauerten auf dem Feld neben dem Rutenhaufen, der ihnen über den Kopf wuchs. Es schien eine unlösbare Aufgabe zu sein. Und Sonnys Vater stand dabei, stolz und vergnügt, ihnen den Rücken zugewandt. Er hatte nie verstanden, wie schrecklich ihre Arbeit war. »Geld für nichts.«
    Sonny dachte: Worauf warte ich noch? Worauf habe ich die ganze Zeit gewartet? Darauf, daß jemand sagt: »Du hast schwer geschuftet mit dem Weidenschäler; hier hast du nun deine Belohnung und verdiente Ruhe.« Oder darauf, daß jemand sagt: »Du bist vor dem Tod auf dem Rhein bewahrt worden, um dein Land zu bestellen. Jetzt kannst du dich hinlegen und Frieden haben.«
    Er verhielt sich absolut still und lauschte. Zu Zeiten seines Vaters und seiner Mutter sprach man von der Musik des Flusses. Seine Mutter kam aus einer Handwerkerfamilie, die Karussells herstellte. Sie hörten Musik, wo keine war. Siewußten nichts von der Herzlosigkeit des Wassers und des Himmels. Sie waren Dummköpfe.
    Sonny hätte nicht sagen können, wie lange er dort so gekniet hatte. Seine Knie schienen in den Erdboden eingesunken zu sein. Er dachte: Ich bringe es besser hinter mich, ehe meine Scheißknie Wurzeln schlagen wie die Weidenstöcke.
    Er legte eine Patrone in das einläufige Gewehr, ließ es einschnappen und entsicherte es.
    Er tastete den Boden um sich herum nach einem Stock oder Zweig ab, den er dem Hund werfen konnte.
    Er fand etwas. Ein rostiges Blechstück, das vielleicht einmal ein Eimerhenkel gewesen war.
    Wolf saß neben ihm und kratzte sich. Er hatte sich schon die Flanke wund gekratzt.
    Sonny pfiff. Der Hund spitzte die Ohren. »Hol’s!« rief Sonny und warf den Eimerhenkel in den Fluß.
    Der Hund rannte hinterher. Am Flußrand zögerte er, was Sonny erwartet hatte. Wolf mochte den Fluß nicht.
    Sonny hob das Gewehr. Er hatte diese Flinte wegen ihrer Leichtigkeit und Zielgenauigkeit immer gemocht. Er zielte auf Wolfs Kopf, direkt über dem Lederhalsband, schoß, und der Hund fiel um. Sein Körper lag zur Hälfte im Fluß. Er würde später von der Strömung hineingezogen und mitgerissen werden.
    Sonny hörte sich pfeifend und keuchend atmen, ja sogar vor sich hin murmeln und plappern wie ein Idiot. In der Stille um ihn herum war der

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