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Die verzauberten Frauen

Die verzauberten Frauen

Titel: Die verzauberten Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Schulz
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seinen schmerzenden Rücken gegen die Stuhllehne, versuchte aufrecht zu sitzen.
    Er war dadurch abgelenkt und schloss die Augen. Bilder schossen auf seiner inneren Bühne vorbei. Er beschloss, Tibor anzurufen und stand auf. Als er ins Foyer der Staatsbibliothek trat, sah er Menschen in dem weitläufigen Raum, die einfach nur herumstanden und vor sich hinstarrten. Wenige Frauen, eine auffällige Anzahl von Männern in Anzügen. Das wäre ihm vielleicht nicht aufgefallen, wenn er nicht gerade etwas über Bespitzelung gelesen hätte. Wilhelm von Paris, der Generalinquisitor, war aber immerhin nicht unter den Herumstehenden.
    Er erreichte Tibor und bat ihn, ihm den Text der Prophezeiung vorzulesen. Tibor kam nach einer halben Minute zum Handy zurück und begann zu lesen. In Velsmanns Ohren klangen die Sätze, vor allem die am Anfang, wie eine Offenbarung.
    Sind wir nicht ein Spiegel der einfachen Seelen, die im Wunsch und in der Sehnsucht nach Liebe verharren? Erlangen wir wirkliche Freiheit nicht nur als vollkommene Vereinigung mit Gott in der Liebe? Die befreite Seele benötigt kein Menschenwerk. Nur die Liebe zu Gott. Begreift dies als Mahnung an die Menschen: Liebet einander, um nicht Christus zu verraten. Und nehmt dieses Wort als Verheißung. Nehmt es als Buch, innen und außen beschrieben. Wenn ihr nicht innehaltet, dann wird dieses Buch versiegelt bleiben. Und ihr werdet dem Untergang nicht entgehen. Und wer zwischen den Ältesten ein Lamm stehen sieht, wie geschlachtet, das sieben Hörner und sieben Augen hat, dem sendet der Herr seine Geister, sendet sie in jedes Land. Öffnet das Buch nur, um daraus zu lernen. Wer nicht lernen will, soll es verschlossen lassen, so es mit allem verderbe. Wer aber auf den richtigen Weg der Menschen zurückfinden will, der soll es kenntlich machen, und das Buch auftun mitsamt seinen sieben Siegeln. Oder du wirst geschlachtet oder bist bereits geschlachtet wie das Osterlamm. Und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft, aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen. So wird es sein im Jahr des Herrn 53, im Jahr des Herrn 1346, im Jahr des Herrn 1648, im Jahr des Herrn 1777, im Jahr des Herrn 1801, im Jahr des Herrn 1946, im Jahr des Herrn 1961, im Jahr des Herrn 1983, im Jahr des Herrn 2012. Und dann nicht mehr.
    Zu dem starken Impuls, den der Text bei Velsmann auslöste, gehörte auch der Eindruck, er bestünde aus zwei Hälften. Widersprach der erste Teil nicht dem zweiten? Er bat Tibor, ihn noch einmal zu lesen. Der Eindruck verstärkte sich. Irgendetwas passte in dieser Botschaft nicht zusammen. Das hatte er vor der Lektüre der Porete-Texte nicht bemerkt.
    Tibor fragte seinen Vater, was ihn daran interessiere. Velsmann erzählte von Marguerite Porete.
    »Starke Tante«, sagte Tibor.
    »Eine Liebesmystikerin des 13.   Jahrhunderts«, korrigierte Velsmann. Er fragte Tibor, ob es im Haus in Eltville etwas Neues gäbe. Tibor zögerte und verneinte. Velsmann beendete das Gespräch.
    Er kehrte in den Lesesaal zurück. Bevor er das Foyer verließ, drehte er sich um. Männer und Frauen, beschäftigungslos, mit ihren Händen spielend oder an ihrer Kleidung zupfend, einige beobachteten ihre Schuhe, jemand schlug eine Zeitung auf, ein anderer ging ins Freie, um zu rauchen.
    Vorsicht, dachte Velsmann, keine Gespenster sehen! Wahrscheinlich sind das nur Leser wie ich, entspannt in einer Lesepause.
    Er setzte sich wieder, jetzt aufmerksamer.
    Der Verlauf historischer Fakten war nüchtern. Im Jahr 1307 beschuldigte man Porete der Häresie und kerkerte sie ein. 1309 erneut als Häretikerin angeklagt und über ein Jahr lang verhört, weigerte sie sich, die Anklage zu widerrufen. Am 1.   Juni 1310, einem Pfingstmontag, wurde sie lebendig verbrannt.
    Auf dem Scheiterhaufen, las Velsmann, stieß sie einen Fluch aus. Meine Feinde werden mir folgen. Erst wenn der Letzte tot ist, und wenn es Jahrhunderte dauert, wird Frieden in unsere Seelen einziehen. Denn die Rückkehr zu Gott ist das höchste Anliegen unserer freien Seele, die Alles ist, während ihr im Abgrund des Nichts verharrt. Wir benötigen von euch keine Gebote, Sakramente oder Tugenden! Ich und meine Schwestern von der Fama Fraternitas, die wir den fernnahen Christus lieben, wir verfluchen euch!
    Wir verfluchen euch   … Erst wenn der Letzte tot ist, und wenn es Jahrhunderte dauert   …
    Die Fama Fraternitas .
    Velsmann las und las, er vergaß die Zeit. Erst zwei Stunden später lehnte sich auf seinem harten

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