Die verzauberten Frauen
Weltreligionen bringen. Während er darauf wartete, schlug er ein dickleibiges Kirchenlexikon auf.
Er fing mit Marguerite Porete an.
Während er dem Inhaltsverzeichnis mit dem Finger folgte, überlegte er, ob sein Sohn, obwohl bewaffnet mit IT-Hardware und Software, bei seiner Fahndung nach Sinn im Verborgenen nicht einen ebensolchen wahllosen Weg bei seiner Suche eingeschlagen hatte. Man musste irgendwo anfangen und seiner Spürnase folgen, einen anderen Weg kannte Velsmann nicht.
Und das war ein Stolperpfad.
Marguerite Porete, um 1250 geboren, hingerichtet am 1. Juni 1310. Vor siebenhundertundeinem Jahr, fast auf den Tag genau. Sie stammte aus Valenciennes im französischen Hennegau. Sie war verhört und gefoltert worden vom Dominikaner und Generalinquisitor Wilhelm von Paris, dem Beichtvater des damaligen Königs Philipp des Schönen. Ein Beichtvater, der foltert, das war in der Kirchengeschichte wohl keine Ausnahme. Was hatte sich Porete zuschulden kommen lassen? Obwohl die Ereignisse so lange zurücklagen, war Velsmann sofort Ermittler, ein Schnüffler auf frischer Spur, er spürte die Anspannung. Er vergaß, wo er sich befand.
Diese Frau, von der er bisher noch nie etwas gehört oder gelesen hatte, schien außergewöhnlich gewesen zu sein. Sie war eine Begine, gehörte jener Erneuerungsbewegung an, die das Papsttum schnell verbot. Ihr unscheinbares Hauptwerk war eine mystische Schrift in Altfranzösisch. Der Titel: Le miroir des simples âmes anéanties qui seulement demourent en vouloir et désir d’amour . Velsmann musste das Buch zur Leselampe drehen, um den deutschen Titel lesen zu können. Spiegel der einfachen Seelen, die nur im Wunsch und in der Sehnsucht nach Liebe verharren .
In der Sehnsucht nach Liebe verharren. Liebe. Das war auch Brentanos Stichwort gewesen, sein Kompass, mit dem er das stürmische Meer seines Lebens zu durchqueren versuchte, bevor er versank.
Liebe.
Velsmann kam der Titel in seiner deutschen Übersetzung bekannt vor, obwohl er sicher war, nie vorher von der Schrift gehört zu haben. Er dachte darüber nach. Hatte er ihn in Brentanos Werk gefunden? Es fiel ihm nicht ein. Hatte nicht der Anfang der Botschaft auf dem Eberbacher Pergament so ähnlich gelautet? Velsmann klopfte sich ungeduldig auf die Brusttasche, aber er hatte die Kopie, die Tibor ihm ausgehändigt hatte, in seinem Schreibtisch gelassen.
Poretes Werk schien damals erfolgreich gewesen zu sein. Noch hatte die Kirche nichts dagegen gehabt, es ins Lateinische zu übersetzen. Velsmann las mit Erstaunen, dass Gerlach von Nassau, der lachende Abt des Klosters Eberbach, den die Zeitgenossen als milden und gütigen Mann schilderten, die Schrift über die tätige Liebe in Deutschland verbreitet und sogar ins Deutsche übersetzt hatte. Er war selbst ein von der Liebe verzauberter Mann gewesen! Deshalb lachte er! Irgendwann jedoch setzten sich andere Gewalten durch, die Schrift wurde verboten, dann vergessen.
Velsmann las weiter und hielt den Atem an. Poretes mystische Schrift war nach langem Exil im Jahr 1946 wiederentdeckt und mit der Autorin identifiziert worden. Im gleichen Jahr tauchte Brentanos Chronika wieder auf. In Oelenberg, im Elsass.
Das Jahr aus der Verkündigung! 1946!
Ein Zufall? Wahrscheinlich, dachte Velsmann. Er stellte fest, dass er aufgeregt war.
Martin Velsmann las weiter. Er merkte, dass er einen Finger im Mund hatte und zog ihn heraus.
Poretes Buch war im Jahr 1300 konfisziert und vom Bischof von Cambrai öffentlich verbrannt worden. Bücherverbrennungen liebte Velsmann am allerwenigsten. Er ließ seinen Zeigefinger über die Zeilen laufen wie ein Erstklässler, er wollte keinen Hinweis übersehen. Ein Lehrbuch der Liebesmystik in Dialogen, las er, in dem Marguerite Porete Freiheit als »vollkommene Vereinigung mit Gott in der Liebe« beschrieb. Die Kirche hatte nach langen Verhören durch den Generalinquisitor begriffen, dass die Ketzerin dies durchaus körperlich und sinnlich meinte. Und wenn sie dann verkündete: »Die befreite Seele benötigt keine Gebote, Sakramente oder Tugenden und nicht den autoritären Vermittler Kirche«, dann war das für damalige Verhältnisse blanke Häresie.
Mehr noch. Es war eine Art Selbstmord in den Flammen auf der Place de Grève von Paris.
Velsmann spürte plötzlich heftige Rückenbeschwerden. Erst jetzt bemerkte er, wie schief er auf dem Stuhl saß, angespannt, ganz vorne auf der Stuhlkante. Er rückte den Stuhl an die Tischkante heran, drückte
Weitere Kostenlose Bücher